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Mit Bernard durch Lyon

Wer mit einem einheimischen ehrenamtlichen Stadtführer unterwegs ist, sieht mehr als andere

Bernard Boely wartet vor dem Bartholdi-Denkmal am Place des Terrraux, in der Nähe des barocken Rathauses auf seine Gäste. Er ist einer von 65 Lyon City Greetern, also ein ehrenamtlicher Stadtführer, der Besuchern seine Heimatstadt zeigt. Heute wird Bernard, der früher bei der France Télécom gearbeitet hat, unser ganz persönlicher Guide sein. Er freut sich über die Gelegenheit, wieder einmal seine Deutschkenntnis- se auffrischen zu können.

Wunschgemäß geht die Tour nach Croix-Rousse, in den ehemaligen Bezirk der Seidenweber. Italienische Weber wurden 1536 vom französischen König eingeladen, den Lyonern ihr Kunsthandwerk beizubringen. Als König Louis XIV. im 17. Jahrhundert anfing, dort Seide zu bestellen, folgte die gesamte Aristokratie seinem Beispiel, und so wurde die Stadt zur Hochburg der Seidenindustrie.

Blick in eine Seidenweber-Werkstatt

Da ich am Tag zuvor bereits eine andere Tour durch Lyon gemacht habe, kenne ich bereits die Geschichte von dem Brunnen, an dem ich mich mit Bernard verabredet habe. Das imposante Bauwerk war ursprünglich für die Stadt Bordeaux geplant. Die Frauenstatue auf dem Brunnen sollte eigentlich die Meeresgöttin Amphitrite darstellen, wurde dann aber einfach zur französischen Nationalheldin Marianne umgedeutet. Der noch unbekannte junge Bildhauer Frédéric Bartholdi konnte sich 1857 mit seinem Entwurf zwar durchsetzen, dennoch wurde das Projekt nicht verwirklicht. Erst als 1866 die ebenfalls von ihm stammende Freiheitsstatue in New York einge- weiht wurde, interessierte man sich plötzlich für die beeindruckende »Fontaine Bartholdi«. Inzwischen war das einst verschmähte Kunstwerk aber natürlich um ein Vielfaches teurer geworden, was den Bordeauxer Stadtrat so ärgerte, dass er den Brunnen für seine Stadt ablehnte. Also schlug die Stadt Lyon zu und erwarb es. Die vier Pferde der Skulptur sollen die vier größten Flüsse Frankreichs symbolisieren.

Der Brunnen am Place des Terreaux ist ein beliebter Treffpunkt

Bernard führt uns zunächst zum Fresque des Lyonnais, einer Hauswand auf der 24 prominente Bürger Lyons abgebildet sind. Von den Balkonen grüßen unter anderem Antoine de Saint-Exupéry und sein kleiner Prinz, die Autorin Louise Labé, Gastgeberin literarischer Zirkel, und Starkoch Paul Bocuse, der bis zu seinem Tod 2018 ganz in der Nähe seiner Heimatstadt auch ein sternegekröntes Restaurant betrieben hat. Neben Bocuse lugt auch noch Filmregisseur Bertrand Tavernier mit seiner Kamera um die Ecke sowie die Erfinder des Kinos, die Brüder Lumière, die stolz ihren Kinematografen präsentieren.

Auf dem Fresque des Lyonnais sind alle prominenten Bürger Lyons versammelt

Diesen bahnbrechenden Apparat kann man übrigens auch im Musée Lumière betrachten, das in der ehemaligen Jugendstilvilla der Familie Lumière untergebracht ist. Film- und Fotobegeisterte können dort Stunden zubringen, denn neben beeindruckenden historischen Fotografien und den Apparaten, die dem Cinématograph N°1 vorausgingen, haben die Besucher die Möglichkeit, mehr als 80 restaurierte Kurzfilme der Brüder anzuschauen. Natürlich ist auch der erste Film der Welt darunter, in dem man sieht, wie Arbeiter die Lumière-Werke verlassen. Als wir später in der Rue du Premier Film stehen, dort, wo Louis Lumière die erste Filmkamera bediente, kommt so Dankbarkeit für all die schönen Kinostunden auf, die wir letztendlich den Brüdern zu verdanken haben.

Genau hier wurde der erste Film der Welt gedreht: „Arbeiter verlassen das Fabrikgelände“

Als Nächstes führt uns Bernard zum Hügel von La-Croix-Rousse, dorthin, wo einst die Webstühle unermüdlich klapperten. Schwiegen sie einmal, so streikten die Seidenweber vermutlich gerade, erzählt Bernard. 1831 protestierten sie zum ersten Mal gegen miserable Löhne und Arbeitsbedingungen – es war der erste große soziale Aufstand in Frankreich seit Beginn des Industriezeitalters. Er wurde ebenso brutal vom Militär niedergeschlagen wie die folgenden beiden Aufstände. Aber die Seidenweber hatten durch ihr geschlossenes Handeln ein nicht zu übersehendes Zeichen gegen die kapitalistischen Ausbeuter gesetzt.

Am Jardin Du Plantes weist Bernard uns auf die Reste eines römischen Amphitheaters hin, in dem früher Gladiatorenkämpfe stattgefunden haben. Ein paar Tage zuvor hatte ich mir bereits das wesentlich größere, hoch oben in den Berg von Fourvière ge- baute 2000 Jahre alte Theater angeschaut. Es gehört heute wie rund 500 Hektar der Innenstadt zum Unesco-Weltkulturerbe. Wenn man auf den Stufen dieses imposanten Theaters sitzt, fallen einem die abgerundeten Fenster des galloromanischen Museums auf. Es wurde von dem französischen Architekten Bernard Zehrfuss fünf Stockwerke tief in den Hügel gebaut und 1975 eingeweiht. Eine spiralförmige Rampe führt vom Eingang und durch die Ausstellung.

Ausblick aus dem galloromanischen Museum

Nicht weit vom Museum entfernt befindet sich die pompöse Basilika Notre-Dame de Fourvière, das Wahrzeichen des Lyoner Marienkults. Man sagt, sie erinnere an einen auf dem Rücken liegenden Elefanten. Bereits im 12. Jahrhundert stand dort die erste Kapelle mit der heiligen Maria, erzählt Bernard. 1643 flehten die Lyoner Maria an, sie von der Pest zu befreien. Ihre Gebete schienen erhört worden zu sein, deshalb wurde sie zum Wallfahrtsort. Am 8. Dezember 1852 wollte man aus Dankbarkeit eine 5,60 Meter hohe, vergoldete Bronzestatue zu Ehren der Mutter Gottes feierlich einwei- hen. Doch an jenem Tag schneite es so heftig, dass die Feierlichkeiten abgesagt wer- den mussten. Aber wie durch ein Wunder, erzählt unser Guide, klarte es in der Dämmerung auf und ein Regenbogen erschien am Himmel. Die Lyoner verstanden das als ein göttliches Zeichen und stellen seither jedes Jahr am 8. Dezember Kerzen ins Fenster und feiern ein Lichterfest, das Besucher aus aller Welt anlockt.

Maria ist die Schutzheilige Lyons

Auch die Basilika von Fourvière wurde nach einem Gelübde errichtet. Der damalige Erzbischhof versprach, eine prachtvolle Kirche bauen zu lassen, wenn Maria die preußische Armee daran hindere, bis Lyon vorzudringen. Das »Wunder« geschah, wenngleich wohl die heilige Maria keinen Anteil daran hatte. Der Erzbischof hielt jedoch sein Versprechen, und so wurde 1896 der Grundstein für den 170 Meter hohen Bau gelegt, von dem man heute einen phänomenalen Blick über die ganze Stadt hat.

Gleich nebenan ließ ein laizistischer Gastronom zum Ärger der strengen Katholiken anlässlich der großen Lyoner Ausstellung 1894 den knapp 85 Meter hohen Tour Métallique nach Plänen von Gustav Eiffel errichten, der dem Pariser Eiffelturm sehr ähnelt. Rechnet man den Hügel dazu, auf dem er steht, ist er sogar höher als der Eiffelturm, erzählt Bernard augenzwinkernd.

Der Tour Métallique wetteifert mit dem Eiffelturm und der Basilika Notre-Dame de Fourvière

Er führt uns weiter zum Square Dejean, dem Denkmal zweier Liebender, die den »Chant de Canuts«, das Lied der Seidenweber, singen. Kurzerhand übernimmt Bernard den Part der steinernen Figuren und trägt das Lied mit Inbrunst vor. Anschließend führt er uns zur Mur des Canuts, der Wand der Seidenweber, einem riesigen, hyperrealistischen Wandbild, das, wie das Fresque des Lyonnais, von der Künstlergruppe CitéCreation gestaltet wurde und Arbeiter in ihrem Alltag zeigt.

Die Seidenweber*innen singen seit Jahrhunderten den „Chants des Canuts“

Obwohl La Croix-Rousse keine Seidenweber-Hochburg mehr ist, gilt dieses Viertel Lyons immer noch als »der Hügel, der arbeitet« – im Gegensatz zu dem Viertel Fourvière, das als »der Hügel, der betet« bekannt ist. Auf dem Gemälde ist neben einem Seidengeschäft auch ein kleines Guignol-Theater abgebildet. Guignol ist eine Art Kasper, der 1810 von einem Arbeitslosen geschaffen wurde und dem man in Lyon überall begegnet. Von Beginn an soll er die »kleinen Leute« von Lyon zur Revolte angezettelt haben – und er wettert auch heute noch in Marionettentheatern gegen soziale Ungerechtigkeit.

Guignol und seine Frau Madelon wurden zwischen 1810 und 1812 von dem Arbeitslosen Laurent Mourguet erfunden

Auf dem Rückweg führt Bernard uns durch eine Reihe von für Lyon typischen Hausdurchgängen, die wir ohne ihn zumeist übersehen hätten. Diese sogenannten Traboules, die ursprünglich aus Platzmangel geschaffen wurden, führen zwischen den Häusern hindurch – manchmal viele Treppen hinab – zur nächsten Parallelstraße. Über 400 soll es davon in Lyon geben. In dem alten Weberviertel wurde hier früher die kostbare Seide durchgetragen, um sie vor Regen zu schützen. Im Zweiten Weltkrieg haben sich dort oft Mitglieder der Résistance getroffen und die nicht auf Plänen verzeichneten Gänge als Fluchtwege genutzt.

Bernards Tour endet nach zwei Stunden wieder am Place des Terraux. Da ich ihm unterwegs mein Leid geklagt habe, dass es mir in der ganzen Woche meines Aufenthaltes in der Stadt noch nicht gelungen ist, einen Beaujoulais Noveau zu trinken, der immer ab Mitte November in Lyon ausgeschenkt wird, steuert er mit uns zielgerichtet eine Bar an und wir trinken gemeinsam ein Glas. Danke, Bernard, für diese besondere und sehr individuelle Stadtführung!

Reiseinfos ❚ Lyon City Greeters: Kostenlose Führungen, an eigene Wünsche anpassbar, unter: www.en.lyon-france.com/ discover-lyon/lyon-city-greeters

Erschienen in nd am 17/18.12.2022

Fotos (c) 2022 Gabriele Summen

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