Yórgos Lánthimos erzählt, wie die Kreatur Bella Baxter am grotesken Leben wächst
Wilde Emanzipation
»Es ist das Ziel aller, voranzukommen und zu wachsen,« behauptet die überaus faszinierende Bella Baxter, Hauptfigur von Yórgos Lánthimos’ »Poor Things«. Man kann sich allerdings kaum vorstellen, wie sich die Kunst des 50-jährigen Regisseurs nach diesem Film noch weiter steigern ließe. Ebenso auf der Höhe ihrer Schaffenskunst angelangt, scheint Emma Stone: Sie verkörpert die wieder zum Leben erweckte Selbstmörderin Bella derart mitreißend, dass es mit dem Teufel zugehen müsste, wenn sie für diese atemberaubende Performance nicht ihren zweiten Oscar nach »La La Land« bekommen würde.
Wir begegnen Bella zum ersten Mal im Haus von Dr. God(win) Baxter (Willem Dafoe). Er ist eine Art Mischung von Henry Higgins aus »My Fair Lady« und Frankenstein. Selbst von den grausamen Experimenten seines Vaters gezeichnet, hat er Bella auf haarsträubende Art erschaffen. Die in Schwarz-Weiß aufgenommenen Sequenzen in Gods Haus, das in einem viktorianisch anmutenden London steht, wirken wie aus einem alten Horrorfilm. Bella, die im Körper einer erwachsenen Frau steckt, ist mental auf dem Entwicklungsstand einer Zweijährigen. Anfangs bewegt sie sich deshalb noch ungeschickt durch ihr schräg-morbides Zuhause, zu dem auch tierische Zwitterwesen wie eine Entenziege und eine Mopsgans gehören.
Das Set-Design des Fantasy-Spektakels sieht aus, als hätten Terry Gilliam und Wes Anderson gemeinsam LSD genommen und sich dann an die Entwürfe gemacht. Kostümbildnerin Holly Waddington, die Bella irre, viktorianische Kleider auf den Leib geschneidert hat, war vermutlich auch mit dabei. Und die auf 35mm gedrehten Bilder von Kameramann Robbie Ryan — mit der für Lánthimos typischen Fischaugen-Optik und ungewöhnlichen Einstellungen — passen kongenial zu Jerskin Fendrix schrägem Score. Das durchgeknallte Drehbuch beruht auf einem Roman des Schotten Alasdair Gray und stammt von Tony Mc Namara, der auch das Skript für Lánthimos’ groteskes Historiendrama »The Favourite« geschrieben hat.
Zu Bellas schräg-morbidem Zuhause gehören eine Entenziege und eine Mopsgans
Bella entwickelt sich in rasantem Tempo, ihre Scham- und Kompromisslosigkeit wird sie jedoch für immer behalten. Gods Assistent Max (Ramy Youssef), der ihre täglichen Lernerfolge akribisch erfassen soll, verliebt sich Hals über Kopf in die Kindfrau. Schon bald entdeckt Bella, deren Gehirn mittlerweile im Teenageralter angekommen ist, die Freuden der Masturbation und steckt sich wahlweise einen Apfel oder eine Gurke in die Vagina. Wenig später wird sie sexuell äußerst aktiv und wundert sich, warum die Menschen das nicht ständig machen. Emma Stone spielt dermaßen befreit auf, egal ob sie gerade bekleidet ist oder nicht, dass es wie die Rückkehr ins sexpositive Paradies anmutet. Dabei beweist sie ein Talent für Komik, als sei sie Chaplins Urenkelin.
Obwohl Bella eingewilligt hat, Max zu heiraten, beschließt sie, zunächst mit dem lüsternen Anwalt Duncan Wedderburn, irre komisch von Marc Ruffalo verkörpert, auf Weltreise zu gehen. Sie möchte entdecken, was es bedeutet, ein Mensch, eine Frau, ein freier Geist und zudem noch ein sexuelles Wesen zu sein.
Die erste Station ihrer Reise ist eine Art retrofuturistisches Lissabon, das in prächtigen Farben erstrahlt. Die meiste Zeit verbringen Bella und ihr schmieriger Liebhaber jedoch in der Horizontalen. Auf ihrem Kreuzfahrtschiff macht Bella Bekanntschaft mit Martha, einer Dame von Welt, gespielt von Hanna Schygulla. Sie ist von Bellas Direktheit und Wissensdurst entzückt und überhäuft sie mit Lesestoff. Marthas Reisebegleiter, der zynische Nihilist Harry, öffnet Bella dagegen beim Landgang in einer Steampunk-Version von Alexandria die Augen für die Ungerechtigkeit und Grausamkeit dieser Welt. Bella ist dermaßen entsetzt, dass sie Duncans komplette Barschaften verschenkt. Völlig mittellos müssen die beiden in Paris von Bord gehen. Dort beschließt Bella, in einem Bordell zu arbeiten. Doch hier ist die fantastische Geschichte einer Frau, die die Regeln der Gesellschaft von Grund auf neu erlernen muss, aber kaum welche von ihnen annimmt, noch lange nicht zu Ende. Diese herrlich verstörende feministische Coming-of-Age-Geschichte muss man einfach gesehen haben.