2030 – 1,5 Grad plus am Morgen
Philippe Djians neuer Roman spielt im Jahr 2030
Dieses Jahr war das heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Dennoch konnten die Teilnehmer*innen der Weltklimakonferenz in Dubai sich letztlich nicht auf das zwingend notwendige 1,5-Grad-Limit einigen. In diesem Zusammenhang wirkt Philippe Djians neuer Roman »Ein heißes Jahr« erschreckend prophetisch. Der Autor des von Jean-Jacques Beineix verfilmten Kultromans »Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen« siedelt seinen Roman im Jahr 2030 an. So heißt sein bereits 2020 in Frankreich erschienenes Werk auch im französischen Original.
In der von ihm entworfenen nahen Zukunft ist das 1,5-Grad-Klimaziel längst gerissen: »Chardonnay wird nur einen Steinwurf vom Polarkreis angebaut«, die Wohlhabenden machen »FKK-Urlaub in Island«, während »die Allgemeinheit ins Virtuelle« flieht.
Djian, der immer propagiert hat, dass die Form alles und der Inhalt zu vernachlässigen sei, hat nun nach über 30 Romanen zum ersten Mal ein Buch mit politischem Anspruch veröffentlicht. Anlass war der Hass französischer Intellektueller auf Greta Thunberg, die der Autor bewundert und in seinem Roman sogar auftreten lässt.
Das Mädchen, das früher Zöpfe trug, ist in »Ein heißes Jahr« mittlerweile 30 und immer noch in der Umweltbewegung aktiv. Doch sie und ihre Mitstreiter sind gescheitert, »die anderen, Mächtigeren, Durchtriebeneren, aufs Geld Schielenden« haben die Welt zu einem recht unwirtlichen Ort gemacht: Auf extreme Hitzeperioden folgen Zeiten sintflutartiger Regenfälle, die Stürme werden immer heftiger, ganze Wälder sind niedergebrannt und Überschwemmungen an der Tagesordnung.
Doch Djian wäre nicht Djian, wenn er in dieses Szenario nicht eine dysfunktionale Familie und eine komplizierte Liebesbeziehung einbauen würde. Sein Protagonist Greg hat bei einem Verkehrsunfall, an dem er nicht ganz unschuldig war, Frau und Sohn verloren. Seine Schwester Sylvia und sein Schwager Anton haben ihn nach diesem Schicksalsschlag – so gut es ging – aufgefangen. Anton ist mittlerweile sogar mit Greg eng befreundet, obwohl er im Gegensatz zu seinem psychisch immer noch instabilen Schwager skrupellos nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Greg arbeitet in Antons Firma, die ein hochgiftiges Pestizid herstellt. Gelegentlich muss er Laborergebnisse für Anton fälschen, das ist »der Preis für sein Apartment, seinen Porsche, seinen gut gepolsterten Alltagskomfort«, und das weiß er auch.
Doch sein Gewissen beginnt sich zaghaft zu melden, als er durch seine 14-jährige Nichte Lucie, die sich in der Klimabewegung engagiert, die Verlegerin und Buchhändlerin Véra kennenlernt. Véra, Mitte 40 und geschieden, ist schon sehr lange Umweltschützerin und veröffentlicht Bücher über Ökologie. Greg verliebt sich Hals über Kopf in sie. Aber Véra hat Angst davor, sich noch einmal zu binden, und überzeugt Greg, ihr gegenseitiges Verlangen zu zügeln, »da Sex doch nur mit falschen Versprechungen« locke. Sie beschließen stattdessen, einfach nur Freunde zu sein, was die Dinge nicht unbedingt einfacher macht.
Als dann noch ein Mann an den Folgen des von Antons Firma vertriebenen Pestizids Montrazol stirbt, ermitteln die Behörden, und Gregs mühsam zusammengehaltenes Leben beginnt auseinanderzufallen Man meint, die mit wenigen treffenden Sätzen skizzierte Szenerie unserer Zukunft, in der »die Dinge keinen guten Lauf genommen haben«, bereits nach wenigen Seiten auf der Haut zu spüren. Der Himmel ist von »unheimlicher Tiefe« und »der Mond durch den Smog kaum zu sehen«. Ebenso gekonnt saugt einen Djian in das Innenleben seiner komplexen Figuren. Wie immer bei diesem Autor handelt es sich um vom Leben gebeutelte Menschen, deren Situation sich dramatisch zuspitzt.
Virtuos wechselt der allwissende Erzähler die Innensicht seines miteinander verstrickten Figurenensembles, ohne dass er dabei angeben müsste, wer gerade spricht, denn Djians Erzählkunst ist so meisterhaft, dass sich das von selbst erschließt. Auch unterteilt er die Geschichte nicht in einzelne Kapitel, sondern lässt sie – wie einen entgleisenden D-Zug – auf den Abgrund zurasen.
Es kommt zu immer heftigeren Konfrontationen zwischen Umweltaktivisten und Klimaskeptikern. Die Dinge in Sylvias Patchworkfamilie, die ein finsteres Familiengeheimnis hat, spitzen sich zu, und Greg gerät völlig aus der Fassung, weil er sich von Véra hintergangen fühlt.
Desillusioniert erzählt Djian von Menschen, die genauso kaputt sind wie ihr Planet. »Im Grunde sind wir alle Monster«, konstatiert Véra einmal, als sie schwach wird und Greg darum bittet, mit dem Porsche eine flotte Runde zu drehen.
Foto: Jacques Sassier / © Gallimard