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Wo die Liebe hinfällt

Fast jeder kennt den Kinderbuchautor Paul Maar und sein Sams. Im hohen Alter reizte es ihn jedoch, auch für Erwachsene zu schreiben: 2020 kam der berührende Roman seiner Kindheit „Wie alles kam“ heraus, 2022 folgte die zumTeil ebenfalls biografisch inspirierte Textsammlung „Ein Hund mit Flügeln“. Auch in der neuen Novelle „Lorna“ des 87-Jährigen über eine tragische, erste Liebe gibt es Bezüge zu seiner Biographie.

Lorna, in die Ich-Erzähler Markus sich verliebt, landet als junge Erwachsene in der Psychiatrie. Das gleiche tragische Schicksal ereilte Maars manisch-depressive Halbschwester Barbara, die er als einziges Familienmitglied bis zu ihrem Selbstmord in der Nervenklinik besuchte. Immer eine Stange Zigaretten unter dem Arm – die einzig gültige Währung dort. Auch sein Ich-Erzähler bringt bei seinen späteren Besuchen in der Psychiatrie immer Zigaretten mit, kommt überdies wie Maar aus der Gegend von Schweinfurt, absolviert die Kunstakademie in Stuttgart und arbeitet später als Kunstlehrer.

Doch das feurige Zentrum des Romans ist die schlagfertige Lorna mit „den langen, roten Haaren“ und „sehr grünen Augen“. Die roten Haare hat sie von ihrem irischen Vater, den sie nie kennengelernt hat. Sie wächst mit Markus in einer Hochhaussiedlung auf, alle Jungs sind in das kesse Mädchen verliebt.

Nach den ersten beiden Kapiteln könnte man zunächst vermuten, dass es sich bei Maars Novelle doch um eine Coming-of-Age-Geschichte für Teenager handelt, aber soviel sei vorab verraten: Unaufhaltsam schlittert die hinreißende Lorna in eine Katastrophe, auch wenn Maar gewohnt leichtfüßig und unaufgeregt, in kurzen Sätzen erzählt. In schönster Eintracht mit seinem Ich-Erzähler beobachtet er auch in den furchtbarsten Momenten, mit wertfreiem und wohlwollendem Blick die Menschen um sich herum. Kennt man Maars Biographie, beginnt man zu ahnen, wie er als fantasievoller Junge seine schwere Kindheit – mit einem brutalen Vater und einer früh verstorbenen Mutter – heil überstanden hat.

Szene um Szene einer verhängnisvollen Liebe lässt Maar mit wenigen Worten vor dem inneren Auge des Lesers entstehen. Tatsächlich eignet sich der Stoff bestens für eine Verfilmung. Ein wenig erinnert seine Geschichte an „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen “ von Philippe Djian, in der es auch um die große Liebe und eine Geliebte geht, die dem Wahnsinn verfällt.

Zunächst schenkt Lorna ihre Liebe jedoch einem behinderten Jungen, den alle Kinder „Hinkebein“ nennen. Nachdem dieser jedoch bei einem Autounfall, den Lorna überlebt, ums Leben kommt, entscheidet sie sich nach ihrer Genesung für Markus. Die Vorboten kommenden Unheils mehren sich aber: Sein Freund Ludwig stirbt nach einem Fahrradrennen an einer Gehirnblutung, eine Freundin Lornas leidet an einer multiplen Persönlichkeitsstörung.

Dennoch genießen die beiden erst einmal ihr Liebesglück. Leidenschaftlich lieben sie sich, während Lornas Freundin Katharina nebenan „Der große Preis“ schaut. Schon bald zieht auch Markus in die WG ein, ihre Gespräche sind stets von feinem Humor durchzogen. Der verlässt den Ich-Erzähler auch nicht, als seine geliebte Lorna längst in der Psychiatrie gelandet und von Medikamenten sediert ist. Das verleiht der Novelle durchgängig eine Melancholie.

Doch das Liebesglück währt nur kurz. Lornas Vater stirbt, ohne dass sie die Gelegenheit hatte, ihn kennenzulernen. Lorna beginnt sich zu verändern: Zuerst fällt Markus auf, dass ihre Pupillen plötzlich ungewöhnlich groß sind. Sie wird beängstigend aggressiv, hat Wahnvorstellungen und murmelt unverständliches Zeug vor sich hin. Katharina zwingt Markus eins und eins zusammenzuzählen: Offensichtlich hat Lorna eine Manie entwickelt. Als sie dann noch kommentarlos einen fremden Mann mit nach Hause bringt, muss Markus sich endgültig eingestehen, dass es scheint, „als hätte sie ihr Gehirn umgestülpt und damit einer anderen Persönlichkeit Zutritt zu ihrem Körper verschafft.“

Nachdem sie in der WG Feuer gelegt und ein Auto zu Schrott gefahren hat, wird sie in die geschlossene Anstalt eingewiesen. Als Markus sie besucht, wirkt sie völlig apathisch, dann verweigert sie die Tabletten. Sie flieht, wird wieder eingewiesen. Maar überlässt es dem Leser, sich selbst eine Meinung darüber zu bilden, wie unmenschlich dieses ihm leider nur allzu wohlbekannte Psychiatriesystem ist. Selbst nach Lornas missglückten Selbstmordversuch besucht Markus sie weiterhin regelmäßig, denn wie er zu Anfang einmal sinniert: „Wo die Liebe hinfällt, da bleibt sie liegen“.

Paul Maar ist mit seiner Novelle ein zutiefst menschliches Buch gelungen, deren Protagonisten den Leser noch lange im Herzen begleiten.

In: Die Rheinpfalz von Juli 2025

Foto (c) Dirk Skiba