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Ein Hauch von Zauberberg

Jedem steht eine Reha oder eine Kur zu. Die wenigsten machen aber eine. Dabei lohnen sich die Begegnungen mit anderen – und mit sich selbst.

Das Leben ist ein Experiment. Je mehr du ausprobierst, desto besser. « Mit diesem Satz von Ralph Waldo Emerson bin ich bislang gut gefahren. Nach einer Knie-Operation beschließe ich also, meinen Orthopäden auf eine Reha-Kur anzusprechen. Nicht nur das Treppensteigen könnte besser gehen – ich fühle mich auch erschöpft. Wochenlang hat mein Mann mich in einem klapprigen Rollstuhl durch Eis und Schnee zur Physio geschoben und es kommt mir vor, als hätte ich das letzte Mal in einem anderen Leben das Tanzbein geschwungen. Mein Arzt ist skeptisch, ob der Reha-Antrag durchgeht, doch ich insistiere. Bald werde ich erfahren, dass nahezu jedem eine Reha oder eine Kur zusteht – viele wissen es einfach nicht.

Ich fülle also den Antrag bei der Deutschen Rentenversicherung gewissenhaft aus, recherchiere Kliniken. Den Kurort darf man vorschlagen, sofern er zur Indikation passt. Ich setze den Filter auf »Einrichtung an der See« – am Meer habe ich mich bislang immer am besten erholt. Drei Wunschkliniken darf man angeben. Wenige Wochen später kommt bereits der Bescheid: genehmigt. Nun muss ich innerhalb von sechs Monaten meine dreiwöchige Kur antreten. Die Genehmigung kam Anfang November. Mist, lieber würde ich im Spätfrühling meine Kur machen. Ich schreibe eine kurze Mail an meine Reha-Einrichtung und bingo! – »Wir erwarten sie dann Anfang Mai!«

Als ich meiner Nachbarin erzähle, wohin es geht, verzieht sie das Gesicht: »Heringsdorf? Wunderschön. Aber über 43 Prozent AfD-Wähler – da bringen mich keine zehn Pferde hin.« Mich schreckt das nicht, auch auf Rügen habe ich schon ätzende Erfahrungen mit Rechten gemacht. Aber ich finde, man sollte im Gespräch bleiben. Wenige Tage vor Abreise werden meine Koffer von Hermes abgeholt. Ich schicke innerlich ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie pünktlicher als die Deutsche Bahn ankommen. Einen kleinen Koffer mit dem Nötigsten trage ich lieber selbst.

Ankunft Heringsdorf. Auf dem Weg zur Rehaklinik sehe ich ein paar leerstehende Gründerzeitvillen, Putz blättert ab, Birken sprießen auf der Veranda. Die Klinik selbst erinnert mich spontan an das »Hospital der Geister« aus der gleichnamigen Horror-Miniserie von Lars von Trier. Später erfahre ich, dass es sich bei diesem Plattenbau und dem Zwillingsnachbarbau um das ehemalige FDGB-Ferienheim »Solidarität« handelt, das 1984 eröffnet wurde. Die Heringsdorfer sind nicht gerade begeistert über den hässlichen Zehngeschosser – Ende des 18. Jahrhunderts stand dort ein prachtvolles Gebäude im Stil der Bäderarchitektur. 1979 wurde es vom FDGB kurzerhand abgerissen.

Guten Mutes trete ich dennoch ein. Meine Koffer stehen schon da – Glück gehabt. Beim Abendessen sitzt neben mir eine nette Verkäuferin, auch aus Berlin: Nur einer ihrer beiden Koffer ist angekommen. Ausgerechnet der mit den Sportsachen!

Ich checke aber erst mal ein. Die Frau am Empfang ist superfreundlich. Doch gar nicht so schlimm, der wilde Osten, denke ich. Anschließend bringe ich meine Koffer hoch in den fünften Stock – die erste von gefühlt 1000 Aufzugfahrten.

Aus dem Zimmer schlägt mir ein Gestank nach modrigem Wasser entgegen. Ich reiße die Fenster auf, trete auf den Balkon. Schau’ ich nach rechts, kann ich die Ostsee sehen, die heute kräftig Wellen schlägt.

Im Pflegebereich fragt mich eine Schwester nach Medikamenten und Therapiezielen – und meinem Beruf. »Journalistin«, sage ich. »Ach du Scheiße«, entfährt es ihr. Ich: »Warum? Ist doch ein schöner Beruf.« Sie errötet, sagt nichts mehr. In ihre Tabelle schreibt sie »Journalist«. Ob sie mich für jemanden von der viel beschworenen Lügenpresse hält? Ich verkneife mir jede Bemerkung und lächle stattdessen.

Vor dem Abendbrot noch ein Gang zum Meer. Durchatmen. Großartig.

Mein betreuender Orthopäde ist erstaunlich ganzheitlich orientiert. Von Lauterbachs Statin-Empfehlungen hält er nichts – fördern angeblich Demenz. Alles Geschäftemacherei. Die digitale Patientenakte? Er schnalzt mit der Zunge: Da freut sich auf jeden Fall die Pharmaindustrie. Auf seinem Tisch liegt ein Bändchen mit dem Titel »Kierkegaard für Gestresste«. Sympathischer Vogel.

Bevor ich zum Abendessen eile, lade ich mir noch rasch die hauseigene Reha-App runter. Morgen um 7.30 Uhr geht’s gleich los mit »Hüfte-Knie-trocken«. Klingt recht dadaistisch. Unser Trainer nennt es später »Matte-Leistungskurs«. Haha.

Also schäle ich mich am nächsten Tag aus dem Bett und frühstücke bereits um sieben Uhr. Ines erzählt von einem Arzt in der vorherigen Kur, der sie nie richtig untersucht habe. Er kam wohl aus dem Jemen. Jürgen murmelt: »Tja, die Ausländer meinen wohl, das geht auch ohne Untersuchung. « Darauf ich: »Ich glaube nicht, dass das was mit der Nationalität zu tun hat.« Jürgen wird rot und sagt: »Ja, natürlich nicht.« Er entschuldigt sich: Er sei nicht in Form, weil er so schlecht schlafe. Hätte einfach drauflos geredet. Ich erfahre: Er ist Integrationsbeauftragter und ich nehme mir vor, nicht hinter jeder Bemerkung gleich einen AfD-Wähler zu vermuten.

Jeden Wochentag habe ich bis nachmittags Anwendungen. Ich zucke kurz zusammen, als ich Nordic Walking auf meiner Therapie-App entdecke. Ich muss gestehen, dass ich mich schon öfter darüber lustig gemacht habe. Doch im zartesten Morgenlicht mit einer netten Truppe am menschenleeren Strand entlangzumarschieren, gehört zu meinen schönsten Kurerlebnissen. Einmal entdecken wir sogar eine Robbe, die ein Bad im Meer nimmt. Als wir näher herangehen, stellen wir aber erstaunt fest, dass es sich um einen Biber handelt.

Ich beschließe, auch Qigong und Zazen-Meditation einmal auszuprobieren, schreibe meinem Arzt eine kurze Nachricht und bekomme prompt Termine auf mein Handy. Diese Anwendungen finden im obersten Stockwerk mit einem atemberaubenden Ausblick auf die Ostsee statt. Unser sympathischer Trainer wirkt alterslos wie ein buddhistischer Mönch. Er erzählt, dass er früher Straßenbaumeister war, später aber unter anderem seinen Reiki-Meister gemacht hat. Es ist rührend mitzuerleben, wie 20 Minuten stillzusitzen und auf seinen Atem zu lauschen selbst den skeptischsten Mechatroniker sichtlich entspannt.

Beim Abendessen frage ich Hans, warum er eigentlich eine Sauerstoffflasche benötigt. Er erzählt mir, dass er mal als Zeitarbeiter im Glasfaserbereich gearbeitet hat, im Gegensatz zu den Festangestellten hätten er und seine Kollegen keine vernünftigen Schutzmasken erhalten – vermutlich habe er deshalb eine Lungenfibrose bekommen. Darmkrebs habe er auch schon überstanden. Will man sich mal ein reales Bild davon machen, wie der Kapitalismus den Profit über die Gesundheit der Arbeiter stellt, ist eine Reha-Klinik der richtige Ort. Michael, ein lebensfroher Baggerfahrer, erzählt von kaputten Gelenken, Rückenproblemen, einem abgebrochenen Wirbel. Doch inzwischen kennt er sein Recht: Reha geht nicht nur alle vier Jahre, sondern bei medizinischer Notwendigkeit auch öfter.

Einmal war er sogar zur Pärchenkur – seine Frau arbeitet an der Käsetheke, ihre Schulter war kaputt vom Laib-Schneiden. Fünf Kinder haben die beiden neben ihrer schweren Arbeit großgezogen. Stolz zeigt er mir Fotos von seinen fünfzehn Enkelkindern und Unmengen von gefüllten Paprika, die er für seine Mannschaft oft zubereitet. Das Rezept hat er von seiner Oma, bei der er aufgewachsen ist. Ich beschließe in Zukunft noch weniger zu jammern.

Das Essen schmeckt übrigens gut in meiner Rehaklinik, ein wichtiger Punkt, den man vor der Wahl seines Kurorts unbedingt recherchieren sollte. Ich kenne Leute, die ihre Kur abgebrochen haben, weil das Essen ungenießbar war. Ernährungsvorträge und Kochkurse gibt es hier auch, dabei kommt es hin und wieder zu interessanten Schlagabtauschen. In einem empfiehlt die Dozentin: »Nur noch Vollkorn!« Ein Patient fragt, warum die Ärzte nicht einfach Weißmehlprodukte verbieten würden. »Mensch, das ist doch Sache der Politik«, ruft ein anderer. Der Erste grummelt: »Früher hätten solche Bäcker auf dem Marktplatz gebaumelt.« Ein Bäcker kontert entrüstet: »Na, hören Sie mal, Backwaren, die mit Weißmehl gebacken wurden, sind doch viel verdaulicher.«

Klartext zu reden, erstaunlich wenig über Krankheiten zu lamentieren und Galgenhumor zu bewahren, zeichnet nahezu alle Kurgäste aus, mit denen ich ein paar Worte wechsele. Schon bald fühlt man sich als Teil einer eingeschworenen Gemeinschaft.

An den Nachmittagen und am Wochenende leihe ich mir ein E-Bike aus und düse mal eben nach Swinemünde oder zum Surfertreffpunkt »Café Knatter« in Ückeritz. Die Küstenradwege sind ein Traum und tragen viel zur Genesung bei.

Nach dreieinhalb Wochen – ich habe inzwischen um eine Woche verlängert – frage ich den sympathischen Krebsforscher beim Mittagessen, ob er am Nachmittag wieder nach Ahlbeck in sein Stammcafé laufen würde. Wir bekommen einen Lachkrampf, denn bei uns allen hat sich schon so ein Zauberberg- Gefühl eingestellt: Die Zeit dehnt sich und die Welt da draußen verliert an Bedeutung. Man wird stiller, träger – und verliert den Willen zur Heimkehr. Dennoch schaffe ich es nach vier Wochen, fitter und recht braun gebrannt wieder abzureisen. Dankbar für die Begegnungen. Die mit den anderen. Und die mit mir selbst.

Foto(c) Gabriele Summen

In: nd von Juli 2025