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Ein Rückblick auf das Jahr der „Zeitenwende“

Ogottogott!

Ein Blick zurück aufs Jahr 2022, in dem Deutschland in der Vorrunde ganz ohne angedrohten Punktabzug wegen Zeigens der One-Love-Binde aus der Fußball-WM flog und Judenhetze als Kunst verkauft wurde.

Von

Gabriele Summen und Maurice Summen

Godislove“, so lautete das Passwort des britischen Soul-Kollektivs SAULT, das auf ihrer Website Anfang November netterweise fünf Alben zum Downloaden verschenkte. Es ist die vielleicht schönste Botschaft des laufenden Kulturbetriebs 2022, denn bei genauerer Betrachtung hatte man es über weite Strecken mit einem gottverlassenen Jahr zu tun. Es ist das Jahr, in dem der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist und die mollige Gemütlichkeit in deutschen Wohnzimmern gestört hat. Eine Welle Omikron-Viren, ungezählte Brandherde in aller Welt sowie das deutsche Hin- und Herlavieren zwischen Gas- und Klimakrise senken Stimmung und Zimmertemperatur weiter ab. Anders als im Lockdown-Jahr 2021 machte jetzt aber nicht einmal mehr das Zoom-Saufen Spaß.

Kein Wunder, dass Harry Styles mit seinen Coming-Out-Regenbogenfahnen-Tänzen auf der „Love on tour“-Tournee zum neuen Album „Harrys House“ von den Teenagern wie ein Messias gefeiert wurde. Später im Jahr stellte er dann noch in dem stylishen, im Vorfeld von zig Skandalen umwitterten Psycho-Thriller „Don’t Worry Darling“ seine darstellerischen Qualitäten – unter anderem beim Cunnilingus – unter Beweis.

Unterdessen machten die Eltern daheim schon mal die American Express Karte für die Special-Kreditkarten-T-Shirt-Edition im Harry-Styles-Pop-Up-Store klar, verkürzten ihre Dusch-Sessions und sparten, um die zu erwartende Strom- und Gasrechnung begleichen zu können.

Bei der Fußballweltmeisterschaft der Männer in Katar durfte das Regenbogensymbol bekanntlich nicht einmal in Form der dezenten „One-Love-Binde“ getragen werden. Immerhin werden LGBTQI-Erzieher:innen hierzulande bald nicht mehr aus katholischen Kindergärten geworfen. Das neue Arbeitsrecht der katholischen Kirche machts möglich. Was das mit der Fußball-WM in Katar zu tun hat? Den Fachkräftemangel vielleicht?

Auf jeden Fall brauchte man 2022 eine große Resilienz. Oder man flüchtete ins Kino. Dort lief Ruben Östlunds Satire auf die spätkapitalistische Gesellschaft ,“Triangle of Sadness“, die absurderweise ausgerechnet in der Welt der Schönen und Reichen gefeiert wurde: In Cannes gabs für den satirischen Blick auf die Welt der Schönen und Reichen die Golden Palme. Selbsterkenntnis oder der Gipfel der Arroganz? Woody Harrelson als ständig besoffener, marxistischer Kapitän des Luxuskreuzfahrtschiffes gehört in jedem Fall zum Großartigsten, was das Kinojahr 2022 bei hohem Seegang zu bieten hatte. Doch das Lachen blieb einem spätestens im dritten Akt im Halse stecken, als man erleben musste, was man insgeheim schon immer befürchtet hatte: dass auch in der Diktatur des Proletariats beziehungsweise des Matriarchats womöglich jede nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Dabei war man vom Kinojahr 2022 schon einiges gewohnt.

Im März hatte Will Smith Moderator Chris Rock bei der Oscar-Verleihung eine schallende Ohrfeige gegeben, weil dieser seine Frau beleidigt hätte; der re-designte Friedrich Merz fischte schamlos am rechten Rand, während die Documenta im Sumpf antisemitischer Bildwelten unterging. Zum Start seines neuen Films Emancipation“ äußerte Smith sein Bedauern über den Vorfall. Und das Kuratorenkollektiv Ruangrupa ist auch wieder oben auf. Das indonesische Team, das die Documenta kuratiert hat, wurde vom britischen Kunstmagazin Art Review zu den einflussreichsten Protagonisten der Kunstwelt gekürt. Das Team landete auf Platz eins vor der in New York lebenden Kuratorin Cecilia Alemani, die mit ihrem Team die Biennale-Ausstellung „The Milk of Dreams“ gestaltet hat.

Überraschenderweise herrschte in den Kinos, Theatern und Konzert-Clubs oft gähnende Leere. Anders als erwartet, zeigte sich das Publikum komplett überfordert ob des Überangebots auf dem Livesektor und schaute sich wie zu Corona-Zeiten zu Hause irgendwelche Serien an.

Unzählige Tourneen wurden abgesagt; viele Konzerte in den kulturellen Nischen konnten hierzulande überhaupt nur dank des Neustart-Kultur-Rettungsprogramms aus Scholzen Bazooka stattfinden. In der Champions League des Pops zwischen Coldplay und Taylor Swift passiert gerade das exakte Gegenteil: Da fängt das Abenteuer schon beim Ticketkauf an. Ob man überhaupt zu den Auserwählten gehört, die noch eine Karte bekommen, ist die spannende Frage. Ob der Server des Ticketing-Unternehmens dem Ansturm standhält, weiß man auch nicht. Beim Vorverkaufsstart von Taylor Swifts Tournee in den USA stürzte der Rechner subito ab. Tja, God mag Love sein, aber ganz sicher kein IT-Experte.

Der König des Rock’n’Roll hatte seinerzeit wohl andere Probleme, wie der Meister des Opulenzkinos, Baz Luhrmann, in seinem Biopic „Elvis“ zeigen wollte. Allerdings nahm sich der „Moulin-Rouge“-Regisseur mal wieder zu viele künstlerische Freiheiten heraus, verschwieg beispielsweise Elvis‘ Nähe zu Richard Nixon und machte seine minderjährige Frau Priscilla ein paar entscheidende Jahre älter. Am Ende dichtet er in sichtlicher Zuneigung zu Elvis dessen Geschichte komplett zu der des armen, ausgebeuteten Künstlers um. Austin Butler als der hüftschwingende King ist aber vermutlich der beste Elvis-Imitator aller Zeiten, wenngleich ihm die seelenvolle Entspanntheit des King abgeht!

Wo wir schon bei Königen sind: Gemessen an dem Medienrummel beim Tod von Queen Elizabeth hatte man das Gefühl, das britische Empire würde immer noch die ganze Welt beherrschen. Die Sehnsucht nach einer Königin scheint groß. Auch hierzulande. Aber klar: Erst geht Merkel, dann stirbt auch noch die Queen.

Nun, wie wäre es mit Beyoncé? Der Königin des R&B?! Den meisten Monarchisten ist sie vermutlich etwas zu jung, zu groovy und zu sex-positiv in ihrer Selbstdarstellung! Schade, dabei trägt ihr aktuelles Album passender Weise den Titel „Renaissance“.

Da wir gerade mit einem Bein in der afroamerikanischen Diaspora stehen: Die erste farbige Lady, die in einer US-amerikanischen Serie einem weißen Mann einen Kuss gab, ist gestorben: Nichelle Nichols aka Nyota Uhura als Kommunikationsoffizier an Bord der Enterprise. Richtig, sie hatte was mit Captain Kirk – und das schon 1968!

Aus eigenem Entschluss aus der Welt geschieden ist in diesem Jahr mit 91 Jahren Jean-Luc Godard, der noch während der Corona-Pandemie 2020 eine fette Zigarre rauchend eine Masterclass auf Instagram gab und, solange es Kino gibt, noch dort herumgeistern wird.

So wie Jean-Paul Belmondo in Godards Meilenstein des Kinos „Außer Atem“ den Geist der Sixties für immer und ewig auf die Leinwand bannte, so zeigte die in Cannes als beste Darstellerin prämierte Renate Reinswe in Joachim Triers großartigem Film „Der schlimmste Mensch der Welt“ wie die sogenannten Millenials ticken.

Und noch ein Generationenporträt wusste in diesem Jahr das Kinopublikum zu begeistern: Die Coming-of-Age-Geschichte „Licorice Pizza“ von Paul Thomas Anderson führte uns in das ins goldenes Licht getauchte Los Angeles der siebziger Jahre zurück und verwickelte uns tief in die wilde Gefühlswelt der ineinander verknallten Hauptpersonen. Der von Anderson persönlich kuratierte Soundtrack von Chris Norman bis David Bowie passte perfekt zu der nostalgischen Stimmung, die der Film hervorrief.

Die Siebziger sind eine begehrter Retro-Zufluchtsort für Mode und Musik. Von Aldous Harding bis Big Thief schwelgten Indiegirls und Boys überall in bittersüßer Psych-Folk-Melancholie in wolligen Oversize-Pullis und ausgelatschten Sneakers. Wobei sich dann abends auf der Party alle gerne zum gemeinsamen Twerken trafen und Rosalias „Chicken Teryaki“ tanzten! So wird „Das Beste aus den Sechzigern, Siebzigern und Neunzigern“ zum Dauermotto in Film-Settings, Playlisten, Soundtracks und Humana-Vintage-Stores.

Da kann die Musik-Industrie auch ruhig mal wieder üppige Boxsets mit restauriertem Audiomaterial und unveröffentlichten Takes von Beatles „Revolver“ oder Neil Young’s „Harvest“-Alben auf den Markt werfen. Die jungen Männer stutzen derweil weiter ihre stolzen Magnum-Schnäuzer und hören gemeinsam mit ihren Eltern Running up that hill (A deal with god)“ von Kate Bush.

Seit im Mai die vierte Staffel der Horror-Sci-Fi-Fantasy Serie „Stranger Things“ ausgestrahlt wurde, in der der Song eine zentrale Rolle spielt, ist die große Avantgarde-Popperin der achtziger Jahre nunmehr die älteste Frau, die jemals an der Spitze der britischen Single-Charts war. Mit einem Song, der im Jahr 1985 erschienen ist, hat sie Cher und ihr „Believe“ abgelöst. Ist es etwa ein Wink des Himmels, dass „A deal with god“ nun „Believe“ ablöst?

Egal. Alle gefallenen Engel tanzen sowieso längst zur The Cramps-Version von „Goo Goo Muck“ (von 1981) den „Wednesday-Dance“ aus Tim Burtons erfolgreichem Adams-Family-Serien-Sequel auf Netflix. Oder war es TikTok?

Um keinen Preis will man zurück in die Zeit vor der MeToo-Bewegung. Maria Schrader hat aus Weinstein-Skandal, der die Kampagne ausgelöst hat, den packendsten Film über investigativen Journalismus gemacht seit Pakulas „Die Unbestechlichen“. Titel: „She Said“. Und im Gegensatz zu Robert Redford und Dustin Hofmann haben die beiden von Carey Mulligan und Zoe Kazan verkörperten New-York-Times-Journalistinnen auch noch ein Privatleben und Kinder, um die sie sich mit kümmern müssen. Ein kleiner Lichtblick, dass das Jahr mit einem Film ausklingt, der zeigt, was für gesellschaftliche Veränderungen mühevoller Qualitäts-Journalismus, jenseits von Fake News, Twitter-Hahnenkämpfen und Clickbait bewirken kann.

Jahresrückblick 2022, Jungle World Dez. 2022