Foto (c) Lou Scamble
Zombies, die sich die Beine vertreten
Berlinale-Wettbewerb: «Ghost Town Anthology» erzählt von einer Geisterstadt, die exemplarisch für viele Orte der Welt steht.
„Und so sehen wir betroffen/ Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Dieses einst durch Marcel Reich-Ranicki abgewandelte Brecht-Zitat mag dem Zuschauer auch nach dem Ende des Abspanns des Films »Ghost Town Anthology«, dem bereits dritten Wettbewerbsfilm von Denis Côté, im Kopf herumgehen.
Côtés Ensemblefilm hat atmosphärisch einiges zu bieten. Gedreht wurde auf grobkörnigem 16-mm-Material, das den Zuschauer vom ersten Bild an wie ein Hauch aus vergangenen Zeiten anweht. Gleich zu Beginn sieht man ein heranrasendes Auto auf einer verschneiten Landstraße plötzlich scharf ausscheren und gegen ein Hindernis krachen. Ein paar kleinwüchsige Gestalten mit unheimlichen Masken, die, so die erste Assoziation, an den tanzenden Zwerg aus David Lynchs »Twin Peaks« erinnern, laufen zur Unfallstelle. Willkommen in der kanadischen Geisterstadt Irénée-les-Neiges, 215 Einwohner, nun bloß noch 214.
Die dem Alkohol nicht völlig abgeneigte Bürgermeisterin Simone Smallwood (Diane Lavalée) nutzt gleich die anberaumte Trauerfeier für den 21-jährigen Simon, um vehement gegen etwaige Landflucht-Gedanken vorzugehen. Als die Kommunalverwaltung eine muslimische Psychologin schickt, wird diese von der Gemeinde, die durch den Selbstmord Simons traumatisiert ist, brüsk abgewiesen. Probleme löst man hier schon immer unter sich, am liebsten durch Verdrängung.
Nach und nach lernt man einige Einwohner des Kaffs kennen, allen voran die Eltern und den zwei Jahre älteren Bruder des Selbstmörders, die zunächst so erstarrt oder auch wütend sind in ihrer Trauer, wie die vor Wind und Kälte berstenden, beeindruckenden Bilder von Kameramann François Messier-Rheaul. Immer tiefer zieht uns Côté in die trostlose Atmosphäre dieses sterbenden Dorfes hinein, macht uns u.a. mit der depressiven Adèle, einem kauzigen, älteren Pärchen und dem Betreiber des einzigen Cafés im Dorf bekannt, der sich mit dem Gedanken trägt ein verlassenes Haus zu kaufen. Doch die Bürgermeisterin warnt ihn vor den negativen Energien des Gebäudes, in dem einst Schreckliches passiert ist.
Sodann kippt die Geschichte beinahe ins Horrorgenre, Protagonisten schauen erschrocken ins Off, ohne dass der erlösende Gegenschuss fällt. Doch schließlich sieht man einige und dann immer mehr beunruhigende, stumme Gestalten, unter ihnen auch der frisch verstorbene Simon. Allmählich stellt sich jedoch heraus, dass es sich bei den Kreaturen ausschließlich um harmlose Zombies handelt, die sich ein wenig die Beine vertreten. Doch auch mit ihnen arrangieren sich die meisten Einwohner dieses sterbenden Dorfes und auch der Zuschauer ist inzwischen so gelähmt von der Tristesse der Geisterstadt, dass er erst gewaltsam aus seiner Schwermut gerissen wird, wenn der Kinovorhang irgendwann fällt. Was man gerade gesehen hat, bleibt für viele Interpretationen offen, eines ist jedoch sicher: Man möchte der durch ökonomisch bedingte Perspektivlosigkeit sterbenden Geisterstadt, die exemplarisch für viel zu viele Dörfer auf der ganzen Welt steht, am liebsten spontan den Darstellerbären verleihen, um der Problematik ein größeres Publikum zu verschaffen.
„Ghosttown Anthology“ in nd von Feb. 2019