Arbeit ist für die Katz
Die Vielschichtigkeit von Wahrheit und Wirklichkeit: “ Oh oh Mythomanie“ ist ein Sammelband aus dem Nachlas von Françoise Cactus
„Hier liegt sie, wie sie zu liegen pflegte. Nur dass sie, solange sie lebte, den Po dazu bewegte.“ Mit diesem Epitaph der 2021 leider viel zu früh verstorbenen Künstlerin Françoise Cactus endet ihre Textsammlung „Oh oh Mythomanie“. Ihr Lebens- und Musikgefährte Brezel Göring stellte sie zusammen, nachdem er sich 2023 endlich an 16 von ihr hinterlassene Truhen heranwagte, in denen sich neben Kurzgeschichten, Zeichnungen, Gedichten, Fotos, famosen Rezepten und Songtexten auch der Kurzroman „Lebenslänglich vierzehn“ befand.
Eigentlich wollte Cactus die „mickrigen 150 Seiten“, wie sie selbst sagte, noch mit Rückblenden über das Leben der drei Protagonist*innen, in den achso wilden 80er Jahren in Berlin versehen. Dazu ist es nun leider nicht mehr gekommen, aber Fans und Freunde ihres fröhlich-respektlosen Humors können sich dennoch mehr als glücklich schätzen, dass Göring die Truhen voller Schätze aus dem Leben des Multitalents noch einmal durchforstet hat.
In dem – nach einer stinkenden Parfümmarke ihres Kumpels – benannten Roman geht es um eine französische Schauspielerin, die mit zwei alten Freunden aus den 80er Jahren in den Urlaub nach Lanzarote fährt. Charlotte ist Schauspielerin in zweitklassigen Serien, aber durch eine Erbschaft mittlerweile recht wohlhabend, während die anderen beiden Mitglieder ihrer ehemaligen West-Berliner-Underground-Künstlertruppe „Die Friseure“ von der Hand in den Mund leben. Doch schon sehr bald bereut Charlotte ihre alten Freunde eingeladen zu haben.
„Aggression war schon immer der Motor ihrer Gruppe gewesen“ – Ressentiments brechen auf, Neid, gekränkte Eitelkeit, Gereiztheit und Alkohol vergiften die Atmosphäre. Zudem verlieben sich alle drei in den zwielichtigen Nachbarn Rudolph, einen Gigolo mit dem bald alle eine Affäre haben. Man beschließt also halbherzig einen Super-8-Trash-Film zu drehen, über eine Serienkillerin namens Dementia, die reihenweise Männer ermordet. Versehentlich endet der Dreh wirklich blutig. Was für eine herrlich provokante Geschichte.
In den 80er Jahren floh Cactus selbst aus dem französischen Burgund nach Westberlin und gründete schon bald die Rockband „Lolitas“. Nachdem sich die Band auflöste, gründete sie mit ihrem Lebensgefährten Brezel Göring die punkige Synthiepop-Band Stereo Total, deren Markenzeichen Cactus‘ französischer Akzent war. Ihr Indiesound aus französischem Chanson, Electronic, New Wave und Beat ist europäischer als ein Espresso und ein Croissant in dem kleinen Café um die Ecke.
13 mitreißende Alben produzierten die beiden und auch den tollen Soundtrack für den Film „Ruined Heart“ des philippinischen Filmemachers Khavn. Der Songtext zu ihrem Evergreen „Die Frau in der Musik“ (stört immer), findet sich auch in der anlässlich des sechzigsten Geburtstags der Antidiva liebevoll zusammengestellten Anthologie.
Wobei niemand mit Sicherheit weiß, ob Cactus am 5.5.2024 wirklich so alt geworden wäre. Mit der Wahrheit hielt sie es nämlich ganz bewusst nicht so genau. Sie habe „die Vielschichtigkeit von Wahrheit und Wirklichkeit als wirksame Waffe im Kampf gegen eine herrschaftsbeanspruchende Definitionsmacht von Wahrheit gesehen, die ihre Gewalttätigkeit in einer Vereinfachung von gesellschaftlicher, zwischenmenschlicher und zwischengeschlechtlicher Vieldeutigkeit findet“, schreibt Göring im Vorwort. Daher auch der Buchtitel, der augenzwinkernd Cactus‘ Neigung zum Flunkern und Übertreiben andeutet. Daran konnte man sich schon in ihren vorigen Büchern erfreuen: Beispielsweise erzählt sie in ihrem auch als Hörspiel heraus gekommenen Roman „Autobigophanie“, wie ihr Leben gewesen sein könnte. Erwiesen ist, dass sie 2004 mit ihrer menschengroßen Topfhäkelpuppe Wollita, die sie im Kunstraum Bethanien ausstellte, die Boulevardpresse in Wallung versetzte. Ihr kritischer Beitrag zur Rolle der Frau, wurde von den Sensationsgeiern zum Pornoskandal hochgejazzt. Nie ließ die Feministin sich aus der Ruhe bringen, von den Gemeinheiten, Machtspielchen und Unverschämtheiten des Patriarchats.
In einer Geschichte dieser famosen Anthologie erzählt sie, wie sie mit ihren Freunden im Burgund plante, eine Band zu gründen: „Die Hormone“. Deshalb ging sie in den Sommerferien für eine elektrische Gitarre malochen, „zunächst in einem Scheißschloss, in dem ich von indiskreten, uncharmanten Bourgeois ausgebeutet wurde.“ Sie warf sich selbst hinaus und jobbte in einer Fabrik, was auch nicht viel besser war. Zu ihrem Erstaunen aber musste sie nach all den Mühen feststellen, dass sie in der Band als Frau gar nicht vorgesehen war.
„Ich habe mich schon immer geweigert, irgendwas aus meinen Fehlern zu lernen, aber diesmal musste ich doch zwei Lektionen memorieren: dass die Abwesenden immer im Unrecht sind und dass Arbeit für die Katz ist. “ Oh Oh Francoise, wir vermissen deinen fröhlich-provokanten Geist!
Foto (c) Stefanos Notopoulos
In: nd von Ot. 2014