Foto: (c) Capelight
Im Spinnennetz
„Filme sagen mir nicht so viel“, meint der antriebslose Geschichtsprofessor Adam (Jake Gyllenhaal) gegen Anfang des vieldeutigen Mystery-Thrillers „Enemy“ zu seinem Kollegen. Regisseur Denis Villeneuve („Prisoners“), der mit Gyllenhaal offensichtlich seine Muse gefunden hat, will mit seinem bedächtig inszenierten Film dagegen recht viel, womöglich zu viel sagen – darüber muss jeder Zuschauer für sich entscheiden.
Die Prämisse des Films, der auf dem Buch „Der Doppelgänger“ des 2010 verstorbenen Literaturnobelpreisträgers José Saramago beruht, hat es jedenfalls in sich: Was geschieht mit einem, wie verhält man sich, wenn man in einem Film plötzlich eine Person entdeckt, die genauso aussieht und spricht wie man selbst?
Genau dieses Schicksal widerfährt Adam, einem recht unsympathischen Mann, der seinem Leben und seiner attraktiven Freundin Mary (Mélanie Laurent) erschreckend gleichgültig gegenübertritt. Die Monotonie seines Alltags und sein trauriges Seelenleben spiegelt sich in den öden Straßen und Hochhausschluchten Torontos wieder, die Kameramann Nicolas Bolduc in klaustrophobische Bilder und unerträglich gleichförmige, verblichene Farben zu tauchen versteht.
Aus Langeweile schaut sich Adam doch einmal einen Film an – eine regionale kanadische Komödie. Dort entdeckt er in einer Nebenrolle einen Mann, der exakt so aussieht wie er. Die offensichtliche Existenz eines Doppelgängers scheint ihn in eine Identitätskrise zu stürzen: Zwanghaft setzt er alles daran, mehr über den zweitklassigen Schauspieler Anthony St. Claire (ebenfalls von Gyllenhaal gespielt) herauszufinden und nimmt schließlich auch Kontakt zu ihm auf.
Nun taucht der Zuschauer vollends in ein in das vom wummernden Filmscore getragene Albtraumszenario, das in der Eröffnungsszene bereits anklang: Gleich zu Beginn des Films wurde nämlich an einem düsteren, geheimen Ort unter den Blicken lüsterner Männer – und Adams Doppelgänger – eine Vogelspinne von einer nackten Frau demonstrativ zertreten! Zweifellos scheint Villeneuve von Verwirrungs-Altmeister David Lynch inspiriert zu sein, vergab er doch auch die Rolle von Adams Mutter an die Lynch-Muse Isabella Rossellini („Blue Velvet“). Die versichert ihrem am Rande der Schizophrenie wandelnden Sohn übrigens, dass er keinen verschollenen Zwillingsbruder habe …
So wie Adams geheimnisumwitterte Mutter verweigert der Film bis zum Schluss klare Antworten, wirft aber jede Menge Fragen auf: Was hat es denn nun mit dem aggressiven Anthony auf sich, der dem introvertierten, zaudernden Adam bis aufs Haar gleicht? Der zunächst nichts von ihm wissen will, dann aber beschließt, die Situation schamlos auszunutzen? So zwingt Anthony den verwirrten Adam, seine sexy Freundin Mary für ein fatal endendes Wochenende gegen seine eigene hochschwangere Frau Helen einzutauschen, die von der neuen Cronenberg-Muse Sarah Gadon gespielt wird. Diese archetypisch angelegten Frauenfiguren – die schwangere Ehefrau und die höchst verführerische junge Frau – legen zuweilen eine recht banale Interpretationsmöglichkeit nahe. Sie gälte es beim nochmaligen Anschauen, nach dem dieser verweisreiche Film beinahe schreit, zu überprüfen.
Vorher sollte man jedoch noch ein wenig seine Sigmund-Freud-Kenntnisse auffrischen – oder lieber doch nochmal Kafka lesen? Wie eine fette Vogelspinne spinnt Regisseur Villeneuve ein beängstigendes, gelegentlich zu konstruiert wirkendes Netz um diejenigen Zuschauer, die Willens sind, sich noch ein paar Nächte den Kopf über diesen Psychotrip eines modernen Mannes zu zerbrechen.
Chilli / April 2014