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Foto (c) Rapid Eye Movies

Der verhinderte Schmetterling

Der titelgebende junge Mann aus Kanu Behls Debütfilm “Ein Junge namens Titli”, der im vergangenen Jahr in Cannes in der Sektion “Un Certain Regard” seine Premiere feierte, will nur eines: herauskommen aus der von Gewalt, Armut und Hoffnungslosigkeit geprägten Hölle in den Slums von Delhi. Titli bedeutet auf Hindi “Schmetterling”. So wollte die früh verstorbene Mutter des schmächtigen Jungen eigentlich das Mädchen nennen, das sie sich an seiner statt wünschte. Letztlich ist sein ungewöhnlicher (Mädchen-)Name zukunftsweisend: Um endlich von der hässlichen Raupe zum Schmetterling zu reifen, muss Titli in diesem so gar nicht bollywoodesken Drama lernen, sich mit dem Weiblichen zu versöhnen und seine hierarchisch-patriarchale Denkweise aufzugeben.

Rohe Gewalt, Hass und Armut bestimmen den Alltag der dysfunktionalen Familie, die sich mit gelegentlichen brutalen Autodiebstählen über Wasser hält, zu denen Titli ebenfalls gezwungen wird. Behl lässt sich Zeit, den schäbigen Alltag der Familie zu zeigen: von dem ein wenig zu exzessiv dargestellten morgendlichen Gespucke ins Spülbecken bis zur Schwägerin Titlis, die in Trennung von dessen gewalttätigem Bruder Vikram lebt.

Titli versucht diesem Teufelskreis zu entkommen, indem er mit seinem mühsam Ersparten heimlich Teilhaber eines Parkhauses werden will. Doch nach einem missglückten Überfall, der wie die anderen sadistisch-brutalen Raubzüge durch realistische Darstellung äußerst erschreckt, muss er feststellen, dass die ebenfalls korrupte Polizei sein Startkapital gestohlen hat. Zunehmende Geldsorgen bringen seine beiden Brüder auf eine Idee: Sie verheiraten ihn mit der hübschen Neelu (Filmdebütantin Shivani Raghuvanshi), um sie gewinnbringend als Lockvogel in die Diebesbande einzubinden.

Doch sie haben die Rechnung ohne die selbstbewusste junge Frau gemacht, die eigene Vorstellungen von ihrer Zukunft hat. Dennoch versucht Titli in der Hochzeitsnacht, Neelu zu vergewaltigen. In dieser Szene wird zum ersten Mal deutlich, wie sehr Gewalt und Respektlosigkeit gegenüber Frauen in Fleisch und Blut übergegangen sind – selbst bei dem an der tradierten Lebensart immerhin zweifelnden Jungen. Fortan wird es dem Zuschauer nicht einfach gemacht, sich mit der immer unsympathischer werdenden Hauptfigur zu identifizieren. Auch deshalb, weil Titlis innerer Konflikt in der von unglaublicher Gleichgültigkeit und Sadismus geprägten Gesellschaft nicht immer überzeugend genug inszeniert ist.

Schließlich schmieden Titli und Neelu – beide Slumbewohner und Opfer der patriarchalen Familienstrukturen – einen Plan: Neelu soll ihren Liebhaber namens Prince weiter treffen, bis dieser sein Versprechen einlöst und sich von seiner Frau scheiden lässt. Im Gegenzug stellt Neelu Titli in Aussicht, ihm ihr Mitgiftkonto zu überschreiben – mit dem er seinen Traum von einem anständigen Leben doch noch wahr werden lassen könnte.

Doch noch dreht sich die Spirale aus Gewalt und Lügen weiter. Erst gegen Ende begreift Titli, dass er die patriarchalen Strukturen hinter sich lassen muss, um eine winzige Chance auf ein besseres Leben zu haben – und beginnt, seinen düsteren Kokon abzustreifen. Er steht damit stellvertretend für den beginnenden gesellschaftlichen Umbruch in Indien.