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Das dunkle Rauschen
Das Internet „connected“, wie es umgangssprachlich heißt, ohne Zweifel die Menschen miteinander. Man kann sich in Selbsthilfeforen mit Gleichgesinnten austauschen, mittels Facebook ganze Revolutionen vorantreiben oder weltweit nach neuer Arbeit oder einem Partner suchen. Die Schattenseiten des de facto unkontrollierbaren weltweiten Netzes: Internationale Bespitzelung, Cybermobbing, Datenverkauf, Online-Prostitution, Betrügereien – aber auch der Verlust des realen empathischen Miteinanders bis hin zur völligen Isolation. Mit dieser brisanten Thematik beschäftigt sich „Disconnect“, das hochspannende Thriller-Drama des amerikanischen Regisseurs Henry Alex Rubin („Murderball“), der sich bislang als Dokumentarfilmer einen Namen gemacht hat und so auch dieser fiktiven Geschichte einen extrem authentischen Touch zu geben vermag.
Äußerst geschickt verknüpft Drehbuchautor Andrew Stern drei lose zusammenhängende Geschichten, die von einem sehr überzeugenden Schauspieler-Ensemble dargeboten werden. Der verträumte Außenseiter Ben (Jonah Bobo) hat sich mit seiner Familie nicht mehr viel zu sagen. Genau wie sein Vater Rich (Jason Bateman) ist er sogar während des gemeinsamen Abendessens online und chattet mit seiner vermeintlichen Freundin Jessica. Hinter der stecken jedoch seine beiden flegelhaften Mitschüler Jason (Colin Ford) und Frye. Sie verleiten Ben dazu, ein Nacktfoto von sich an „Jessica“ zu schicken. Dieses Foto verbreitet sich in Windeseile auf den Handys seiner Mitschüler, was zu einer Kurzschlussreaktion des gedemütigten Teenagers führt, die dem Zuschauer die Tränen in die Augen treiben wird.
Bens Vater wiederum arbeitet als Rechtsberater in einem Fernsehsender, dem auch die ehrgeizige Reporterin Nina (Andrea Riseborough) angehört. Hartnäckig überredet die Journalistin Kyle (Max Thieriot), der via Webcam der organisierten Online-Prostitution Minderjähriger nachgeht, zu einem anonymen Fernsehinterview. Schon bald drängt das FBI sie dazu, die Identität ihres Interviewpartners preiszugeben. Rüpel Jasons alleinerziehender Vater Mike (Frank Grillo) hingegen, der pikanterweise einst ein auf Cyber-Kriminalität spezialisierter Polizist war, wird von Derek (Alexander Skarsgård) und seiner Ehefrau Cindy (Paula Patton) engagiert. Den einander entfremdeten Eheleuten, die in Selbsthilfeforen und beim Online-Gambling Gleichgesinnte beziehungsweise Zerstreuung suchen, wurden ihre Online-Identitäten gestohlen und sämtliche Konten leergeräumt.
Mit viel bewegter Handkamera verleiht Kameramann Ken Seng den virtuos verwobenen Episoden Tempo, bis sie schließlich in einem in Zeitlupe präsentierten Höhepunkt münden. Wie kaum ein Film zuvor macht „Disconnect“ die verheerenden Folgen fühlbar, die der Missbrauch der Anonymität des Internets im realen Leben der Menschen haben kann. Dazu hätte es im Finale nicht einmal der Streicherklänge des Berliner Filmkomponist Max Richter („Waltz with Bashir“) bedurft.
Radi0 Berg / Jan. 2014