Eine schrecklich dysfunktionale Familie
Ursula Meiers neustes Werk hält leider nicht ganz, was es anfangs verspricht
Zu klassischen Klängen fliegen Blumenvasen, Bierflaschen, CDs, Schallplatten und Notenblätter in Zeitlupe an die Wand. Mit wutverzerrtem Gesicht stürzt sich Margaret (Stephanie Blanchoud) auf ihre verängstigte Mutter Christina (Valeria Bruni-Tedeschi). Ihre Schreie werden von den klassischen Klängen übertönt. Ein Mann versucht vergeblich die beiden Furien zu trennen. Am Ende verpasst Margret ihrer Mutter eine gepfefferte Ohrfeige und diese schlägt mit dem Kopf auf das Klavier auf. Sie trägt deshalb einen bleibenden Hörschaden davon. Die schaurig-perfekt komponierte Anfangsszene dieses Dramas über eine dysfunktionale Familie verspricht zunächst ganz großes Kino, so wie man es von Ursula Meiers großartigen Filmen, wie beispielsweise „Winterdieb“ gewohnt ist.
Die Mutter, eine narzisstisch gestörte Konzertpianistin, die ihre drei Töchter nie wirklich wollte, erwirkt ein dreimonatiges Kontaktverbot gegen ihre Älteste. In dieser Zeit darf sie sich nicht näher als auf 100 Meter dem Haus nähern. Margaret, die sich nie ganz von ihrer passiv-aggressiven Mutter zu lösen vermochte, will jedoch unbedingt sofort in den Schoß der toxischen Familie zurück. Ihre jüngere Halbschwester Marion misst mit einem Seil den Radius ums Haus aus und markiert ihn mit blauer Farbe, um sie dabei zu unterstützen, sich an die richterliche Anordnung zu halten. Fortan hält sich die wie ihre Mutter ebenfalls musikalisch begabte Margaret, die sich mit Gelegenheitsjobs in der Nachbarschaft über Wasser hält, permanent an dieser blauen Linie auf. Dort gibt sie Marion Gesangsstunden, hier trifft sie auch auf ihre mittler Schwester Louise (India Hair), die hochschwanger ist.
Der Film, der auf der 72. Berlinale seine Weltpremiere feierte, weiß zwar mit intensivem Schauspielerkino und eindrucksvoller Kameraarbeit von Ursula Meiers Stammkamerafrau Agnès Godard durchaus zu überzeugen, lässt die Zuschauer*innen am Ende aber ein wenig unbefriedigt und ratlos zurück.
Foto (c) Piffl Medien
In Stadtrevue / Mai 2023