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Foto: (c) Andreas Labes

Ein Gespenst geht immer um

In dem dritten Kurzroman der aus Wiesbaden stammenden Autorin Ricarda Junge „Die komische Frau“ ist nichts gewiss. Weder die Identität des jungen, schon bald getrennten Elternpaares aus dem Westen, das sich brav in der Kreativwirtschaft bis zur Erschöpfung selbst ausbeutet – noch das Selbstbild der ehemaligen DDR-Elite, die mit dem politischen Wechsel nicht klarkommt. Selbst das Genre dieses zwischen Schau- und Ost-West-Roman changierenden Bändchens entzieht sich jeder eindeutigen Zuordnung. Damit passt Junges Lesung bestens in die genreübergreifende Veranstaltungsreihe „Stadt Land Buch“.

Die Figuren aus Ricarda Junges Novelle haben zwei Gemeinsamkeiten: Ihre Verunsicherung in der heutigen Zeit und eine Wohnung in einem ehemaligen Arbeiterpalast, in einer Seitenstraße der Karl-Marx-Allee. Schon bald nach ihrem Einzug beginnt der zweijährige Sohn der Ich-Erzählerin Lena von einer komischen Frau zu reden. Und dann sind urplötzlich Heizungen aufgedreht, die Herdplatte eingeschaltet, die Tür von außen verschlossen. Spuken in diesem Stalinbau tatsächlich die Geister der DDR-Vergangenheit? Oder leidet die alleinerziehende Mutter lediglich an Überforderung? Junge lässt alle möglichen Deutungen bewusst zu.

In ihrem kühlen, protokollartigen Stil, der vielen Absolventen des Literaturinstituts Leipzig zu eigen ist, bringt sie das karge Gerüst dieser Geschichte zum Raunen, dass sich die Genrebalken biegen. Lena verliert mehr und mehr den Boden unter ihren Füßen.

Frau König, die omnipräsente Hausvertrauensfrau, die in der ehemaligen DDR das sogenannte Hausbuch geführt hat, in dem akribisch niedergeschrieben wurde, wer in dem Haus wohnt, und wer wie lange dort zu Gast war, scheint den Schlüssel zu allem zu besitzen. Sie ist der Schriftstellerin Lena, dem Erzähler-Ich, gar nicht so unähnlich. Beide arbeiten schließlich an einer Art Hausbuch über die Bewohner, deren wirkliches Leben sich aber erst zwischen den Zeilen erschließt.“Neugierde“, sagt Frau König, „Nichts treibt Menschen stärker an … Und durch nichts gerät man leichter in Scherereien.“ Die eigene Angst vor der Vergangenheit und der Zukunft – sie zieht sich durch den gesamten Roman – trübt den Blick für die Wirklichkeit. Doch nur durch Offenheit und Neugier können die alten und neuen Gespenster in Schach gehalten werden.

Ricarda Junge / Die komische Frau in Berliner Zeitung von November 2010