Die Eine-Million-Dollar-Frage
In »Die Gleichung ihres Lebens« scheitert ein weibliches Mathe-Genie an einer komplizierten Berechnung
Kennen Sie die Goldbach’sche Vermutung? Nun, ganz einfach, die Hauptthese eines der ältesten Probleme der Mathematik, das bereits 1742 formuliert wurde, lautet: Jede gerade Zahl, die größer als 2 ist, ist die Summe zweier Primzahlen. Okay, das versteht man sogar, wenn der Mathematikunterricht schon etwas länger zurückliegt. Doch an dem Versuch, diese einfach klingende Behauptung auch zu beweisen, haben sich schon viele die Zähne ausgebissen. Im Jahr 2000 setzte der britische Verlag Faber and Faber sogar eine Belohnung von einer Million Dollar aus – für denjenigen, der die Richtigkeit der Goldbach’schen Vermutung bestätigt. Bislang hat noch niemand das Preisgeld gewonnen.
In der schweizerisch-französischen Produktion »Die Gleichung ihres Lebens« von Anna Novion, die 2023 bei den Special Screenings in Cannes gezeigt wurde, will Marguerite, Studentin der renommierten Pariser École normale supérieure (ENS), dieses berühmt-berüchtigte Problem der Mathematik in ihrer Dissertation lösen.
Der Film startet in einer ähnlichen Atmosphäre wie viele Filme dieses Genres, die sich um Mathegenies drehen – man denke nur an »A Beautiful Mind« oder »Die Theorie von allem«: Die mausgraue Mathematikerin Marguerite ist die einzige Frau in dem Promotionsprogramm ihres nüchternen und ehrgeizigen Doktorvaters Professor Werner (Jean-Pierre Darroussin), der für die bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsene Marguerite auch emotionaler Bezugspunkt ihres zweiten Zuhauses an der Uni ist.
Ella Rumpf (»Tiger Girl«) verkörpert diese lebensfremde Superintellektuelle, die keinen Gedanken daran verschwendet, wie sie auf andere wirkt, äußerst glaubwürdig. Professor Werner hat jedoch plötzlich kaum noch Zeit für die brillante, junge Frau, die in ihren bequemen Hausschuhen an der Uni herumschlappt. Sein Interesse gilt nun stattdessen seinem neuen, männlichen Protegé Lucas (Julien Frison), der vor Kurzem aus Oxford an die ENS gewechselt ist. Als Marguerite dann Teile ihrer Arbeit erstmalig vor einem – ausschließlich männlichen – Forschungsgremium präsentiert, entdeckt Lucas auch noch einen gravierenden Fehler in ihren Berechnungen und stellt sie vor allen bloß. Das ist zu viel für die emotional unterentwickelte 25-Jährige. Voller Selbstzweifel und verletztem Stolz schmeißt sie einfach alles hin und verlässt die Uni.
Bei der Suche nach einem Aushilfsjob, um ihr Stipendium zurückzuzahlen, lernt sie Noa (Sonia Bonny) kennen und zieht bei ihr ein. Obwohl die beiden sehr unterschiedlich sind, inspirieren die leidenschaftliche Tänzerin und die hingebungsvolle Mathematikerin sich gegenseitig. Noa bewundert Marguerites unverblümte Art, und diese wiederum schaut sich einiges von den Freiheiten ab, die Noa sich als Frau herausnimmt. Mit Noa bringt Novion eine interessante Variable ins Spiel, die ungewöhnliche Freundschaft mit ihr ist weitaus spannender als Marguerites völlig auf die Mathematik fixiertes Leben – zumal sie anfangs nicht sonderlich sympathisch rüberkommt. Diesen Part sowie ihren Konflikt mit ihrem Professor und ihre bizarr-komische Affäre mit einem jungen Mann, den die sexuell unerfahrene Marguerite unverblümt anbaggert und zum Sex auffordert, hätte man gern noch etwas ausbauen können.
Auch Marguerites Entdeckung des hochkomplexen Mahjong-Spiels, bei dem sie in Nullkommanichts zu einer Koryphäe aufsteigt und schon bald in den Spielhöllen der Stadt ihr Geld verdient, wird nur angerissen. Ein intellektueller Nerd, der durch sein erstmaliges Scheitern gezwungen wird, andere Facetten des Lebens kennenzulernen, ist einfach die interessantere Geschichte – darauf hätte Novion sich mehr fokussieren sollen, um die Zuschauer*innen vollends in den Bann zu ziehen. Stattdessen lässt sie Marguerite zu rasch wieder zur Lösung des Goldbach’schen Theorems zurückkehren: Dieses Mal wendet die emotional ein wenig gereifte Marguerite sich aber direkt an Lucas, um das Problem mit ihm zusammen anzugehen. Erst einmal müssen die beiden jedoch einen gemeinsamen Nenner im Umgang miteinander finden, denn Lucas ist ein Mensch, der neben seiner Leidenschaft für die Mathematik auch noch andere Interessen hat und wesentlich kommunikativer und zugänglicher ist.
Schließlich legen die beiden mit wilden Berechnungen los und kritzeln dabei bis zur völligen Erschöpfung ganze Zimmerwände voll, die sie vorher schwarz gestrichen haben. Das wirkt recht redundant, womöglich aber nicht für mathekundige Zuschauer*innen, denn die Gleichungen, die man im Film sieht, haben alle ihre Richtigkeit. Die Mathematikerin Ariane Mézard hat als technische Beraterin des Films alles sorgfältig berechnet und ist bei der Produktion des Dramas sogar auf neue interessante Lösungsansätze für die Goldbach’sche Vermutung gestoßen.
Letztlich verspielt Novion einige interessante Ansätze, die die Geschichte bietet, sodass in diesem Fall das Ganze leider weniger ist als die Summe seiner Teile.
Foto (c) © Pyramide Films
„Die Gleichung ihres Lebens“ in nd von Juni 2024