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Das erkaltende Herz der Gegenwart

Der neue Roman des Pirmasenser-Hugo-Ball-Preisträgers Bov Bjerg ist eine bittersüße Satire über die Herausforderungen der Zukunft

2020 erhielt der Schriftsteller und Kabarettist Bov Bjerg („Auerhaus“) den Hugo-Ball-Preis der Stadt Pirmasens „für sein vielseitiges Werk als gesellschaftlich schreibender und handelnder Erzähler“. sein neuer Roman „Der Vorweiner“ wirft einen düsteren Blick in die nahe Zukunft.

Bov Bjergs zweites Buch „Auerhaus“, ein melancholischer Coming-of-Age-Roman, war 2015 zum großen Überraschungserfolg geworden. Er handelt von einer Gruppe von Schülern um den lebensmüden Frieder, die in einem alten Haus eine WG gründen. Sein nächster Roman „Serpentinen“ war schonungsloser – eine tieftraurige Vater-Sohn-Geschichte, die es zu Recht auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis schaffte. Sein neustes Buch „Der Vorweiner“ ist noch viel radikaler.

Bjerg projiziert die aktuellen politische Verhältnisse in Europa durch die allerschwärzeste Brille in die nahe Zukunft: Klimawandel, Bürgerkriege, die zutiefst beschämenden Entwicklungen in der Flüchtlingsfrage sind nur ein paar der beängstigenden Themen, die er aufgreift.

Die lakonisch und staubtrocken erzählte Geschichte ist wahrlich kaum zu ertragende Kost für Leser, die sich von der nicht enden wollenden Liste schlechter Nachrichten bereits erschöpft fühlen. Immerhin gibt es spöttische Triggerwarnungen vor jedem Kapitel wie etwa „Alkoholkonsum, Rauchen, Gewalt gegen Weichtiere“.

Der dystopische Roman spielt in Deutschland, das nach dem Klimawandel Resteuropa genannt wird. Alle anderen Staaten sind zugrunde gegangen: Italien und die Gebiete um die Nord- und Ostsee versanken infolge des stark gestiegenen Meeresspiegels, aus dem der Restkontinent auf einer dicken Betonschicht emporragt. In Britannien wütet die Pest, die Schweiz wurde von einem heimtückischen Goldpilz heimgesucht, der ihre Reserven in Humus verwandelt hat und Österreich hat sich durch exzessive Vetternwirtschaft selbst zugrunde gerichtet. Doch auch Resteuropa hat unter dem Klimawandel zu leiden: Dauerregen im Westen, gnadenloser Sonnenschein und Steppenbrände im Osten.

Als wäre das alles nicht schlimm genug, macht auch keiner mehr Witze. Doch keine Sorge, bitterernst ist Bjergs Roman dennoch nicht. Wer auf nihilistischen Humor und sarkastische Wortschöpfungen steht, kommt sogar voll auf seine Kosten. Die wie ihre Mitmenschen völlig empathielose Erzählerin „B. wie Berta“, die es bevorzugt von sich in der dritten Person zu schreiben, ist beispielsweise „Klickbeuterin“. Sie erfindet Nachrichten für die ASN („Agentur für spannende Nachrichten“). „Modern journalism“ nennt sich das. In einer Gesellschaft unter völliger medialer Kontrolle, in der jegliches Gefühl abhanden gekommen ist, nurmehr inszeniert wird, sind ihre haarsträubenden Sensationsgeschichten Nachrichtengold – und enden jedes Mal mit den Schreien der Menschen, denen Schreckliches widerfahren ist: „Seitdem hört die Witwe nicht auf zu schreien. Wir wollen unseren Hörer:innen die Schreie der Witwe nicht vorenthalten.“

Auch Trauer können die Menschen in Bjergs Romanwelt nicht mehr empfinden. Deshalb leistet sich die herrschende Klasse die titelgebenden „Vorweiner“. Diese werden aus den Heerscharen von Flüchtlingen rekrutiert, die es nach Resteuropa geschafft haben. Auch die Mutter der Erzählerin, „A. wie Anna“, schafft sich im fortgeschrittenen Alter noch einen „Vorweiner“ an. Der arme Tropf stammt aus den untergegangenen Niederlanden, dort vegetiert man jetzt auf Flößen vor sich hin. Nun macht sie sich vorschriftsmäßig daran, eine Bindung zu ihm aufzubauen, die im Wesentlichen darin besteht, ihm das Nationalgericht seiner ehemaligen Heimat vorzusetzen. Schließlich soll er sie bei ihrer Beisetzungsfeier lautstark beweinen. Beerdigungen sind nämlich abgeschafft, stattdessen gibt es sogenannte „Zerstreuungsfeiern“, bei der die Asche verstreut wird. Die Zeremonie wird im Netz übertragen und es ist eine große Schande, wenn der Vorweiner nicht ergreifend performt.

Praktische Arbeit ist für die Oberschicht ein Luxusgut. Die 70-jährige Anna, die noch andere Zeiten kennt, bezahlt Menschen aus der Niederschicht dafür, Fenster kitten oder Kartoffeln ernten zu dürfen – in dem vergeblichen Versuch mal wieder eine authentische Erfahrung zu machen. Auch eine an Geschmacklosigkeit kaum zu überbietende Blutorgie beim Schlachten eines Schweins gehört dazu.

Ihre Tochter Berta steht ihr an grausamer Egomanie um nichts nach. Sie legt sich einen Lover aus der Niederschicht zu, den sie am Ende einfach umbringt – genau wie ihre Mutter einst den gewalttätigen Vater. Es gibt wohl kaum eine bad news, keine gesellschaftliche Verwerfung dieser Tage , die in diesem hoffnungslosen Roman nicht verarbeitet sind.

Doch wie sagte noch der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Ralph Waldo Emerson: „Jedes Buch, jedes kleine Wörtchen, das dir zur Hilfe und Trost bestimmt ist, wird auf geraden oder verschlungenen Wegen zu dir gelangen.“ Bov Bjergs sperrig-gnadenloser Roman gehört mit Sicherheit nicht zu diesem Kanon. Dennoch ist sein wenig subtiler Faustschlag in das erkaltende Herz unserer Gegenwart lesenswert und man darf gespannt sein, was dieser eigenwillige Autor als Nächstes ausbrütet.

Foto (c) Arne Desert /dpa

In: Die Rheinpfalz / Okt. 2023