Paris, die Stadt der Kriege
Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka landen drei Menschen in einer Sozialbausiedlung in einer französischen Banlieue. Jacques Audiard erzählt in seinem Film »Dämonen und Wunder« vom Trauma der Geflüchteten, die in einem Kreislauf aus Gewalt und Erniedrigung gefangen sind.
Die Ghettos von Paris – ehemals florierende Arbeiterviertel – sind nach den terroristischen Anschlägen wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Einer der vier Täter, die im Bataclan ein barbarisches Blutbad anrichteten, ist im Banlieue Courcouronnes aufgewachsen. Auch die Attentäter vom 7. Januar, als es die Redaktion von Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt traf, haben in Frankreich gelebt. Die Terroristen kommen also nicht mit den Flüchtlingen zu uns. Nein, es sind bekanntermaßen wir Europäer, die in Paris, Belgien oder anderswo die Verantwortung dafür tragen, dass in Vierteln, in denen von der Mehrheitsgesellschaft abgelehnte, chancenlose Menschen bereits in der zweiten oder dritten Einwanderungsgeneration leben müssen, sich einige auch radikalisieren oder kriminell werden.
In einem solchen französischen Vorort spielt Jacques Audiards Drama »Dämonen und Wunder«, das in diesem Jahr die Goldene Palme in Cannes gewann. Die Jury honorierte zum einen die Brisanz der erzählten Geschichte, die die Einwanderungspolitik Frankreichs kritisiert, in dem Drama werden kriegstraumatisierte Flüchtlinge in No-go-Areas von Paris »geparkt«. Zum anderen war Jacques Audiard schlichtweg an der Reihe. Bereits 2009 musste er sich für seine großartige Mischung aus Gangsterdrama und Sozialstudie in dem Film »Ein Prophet« mit dem Großen Preis der Jury von Cannes begnügen, da Michael Haneke für seinen Film »Das weiße Band« die Goldene Palme erhielt. 2012 ging er in Cannes mit seinem starken Liebesdrama »Der Geschmack von Rost und Knochen« trotz vieler begeisterter Kritiken überraschenderweise leer aus.
In »Dämonen und Wunder« beeindruckt der Regisseur durch sein Gespür für soziale Realitäten, die er bildlich überhöht, obwohl er seine Geschichte, unterstützt von der geschmeidigen Kameraarbeit Éponine Momenceaus, auf ruhige Weise erzählt. Sein Hauptdarsteller Jesuthasan Antonythasan kennt die Geschichte seiner Filmfigur aus eigener Erfahrung. Der von ihm dargestellte junge Mann namens Sivadhasan, der sich später Dheepan nennt, wurde genau wie er mit 16 Jahren von der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE), die für einen unabhängigen Tamilienstaat kämpfte, als Kindersoldat rekrutiert. Mit 19 Jahren gelang ihm die Flucht vor dem erbitterten Bürgerkrieg in Sri Lanka. 1993 migrierte Antonythasan von Thailand nach Frankreich, wo er sich, wie auch Dheepan, mit Gelegenheitsjobs – zum Beispiel als Hausmeister – durchschlug. Heute ist er unter dem Namen Shobasaskthi hauptsächlich als Schriftsteller tätig. Bis auf eine Nebenrolle in dem indischen Film »Sengadal« hatte er bislang keine Erfahrungen mit professionellem Kinoschauspiel – ebensowenig wie die weibliche Hauptdarstellerin und Theaterschauspielerin Kalieaswari Srinivasan. Sie verkörpern ein Paar, das seine Ehe nur spielt.
Zu Beginn des Films sieht man den Mann, der später Dheepan heißen wird, die Körper seiner toten Kameraden und seine Militäruniform verbrennen. Dann sieht man die von Srinivasan gespielten Zivilistin durch ein Lager in Sri Lanka hetzen. Es ist die Frau, die sich später als Yalini ausgeben wird. Rasch muss ein Waisenkind her, damit die Schieber Dheepan und ihr die Reisepässe einer verstorbenen Familie übergeben können, weil sie in Frankreich so bessere Chancen im Asylverfahren haben. Yalini findet schließlich eine neunjährige Waise, die fortan auf den Namen Illayal (Claudine Vinasi-thamby) hören muss. Einige Zeit später erreichen die drei Flüchtlinge Frankreich. Ein Übersetzer durchschaut ihre Lügengeschichte, weil er aber aus derselben Region stammt, hilft er der Scheinfamilie. Daraufhin werden sie einem Vorort von Paris in einer heruntergekommenen Sozialbausiedlung untergebracht. Zunächst muss sich Dheepan illegal als Straßenverkäufer durchschlagen. Doch schon bald bekommt er einen Job als Hausmeister in seiner Siedlung. Yalini, die niemals nach Frankreich, sondern eigentlich zu ihrer Cousine nach London wollte, ergattert eine Arbeit als Köchin und Putzhilfe bei einem dementen alten Mann. Die Vollwaise Illayal, die in ihrer Zufallsfamilie nicht die Geborgenheit und Liebe erfährt, die sie so dringend benötigt, nutzt ihre Chance, in einer Integrationsklasse Französisch zu lernen. Dort liest sie auch ein Gedicht von Jacques Prévert, das im Filmtitel »Dämonen und Wunder« zitiert wird.
Bis die neue Mutter dem Waisenmädchen ein wenig Zuneigung schenkt, ist es noch ein weiter Weg. Leise Szenen, wie die zwischen Mutter und Tochter, gehören zu den stärksten des Films. Etwa wenn Yalini gesteht, dass sie mit Kindern nicht viel anfangen kann. Ab und zu blitzt ein verzweifelter Humor auf. So wenn der ehemalige Soldat und die Zivilistin, die sich eigentlich gar nicht mögen, versuchen, eine gemeinsame Ebene zu finden. Den Zuschauer lassen diese Szenen so schnell nicht mehr los.
Audiard geht es nicht darum, die Hintergründe des Bürgerkriegs in Sri Lanka oder die Gründe der Bandenfehde in der Banlieue zu vermitteln, er will zeigen, was Gewalt und Erniedrigung mit Menschen anstellen – und unter welchen extremen Bedingungen diese seelisch Schwerverletzten sich in unsere Gesellschaft integrieren müssen. Schon bald wird deutlich, dass im Wohnblock gegenüber das Hauptquartier einer Drogengang ist. Bedrohliche Gestalten patrouillieren auf den Dächern, düstere Treffen werden abgehalten. Der Zuschauer nimmt die Perspektive der tamilischen Flüchtlinge ein, denen die gespenstisch-bedrohlichen Szenerien vor dem nächtlichen Fenster wie Bilder aus einem Kinofilm vorkommen. Die Hoffnungen auf ein besseres Leben schwinden.
Mehr und mehr zwingt der Film den Zuschauer, sich die provokante Frage zu stellen, was die Banlieues von den Kriegsschauplätzen in Sri Lanka unterscheidet. Zudem fragt man sich, wie die französischen Behörden schwer traumatisierte Kriegsflüchtlinge, die ihre komplette Familie verloren haben, an einem derart gewalttätigen und hoffnungslosen Ort unterbringen können. Kein einziges Mal taucht in »Dämonen und Wunder« die Polizei auf. Werden die Einwohner in den Problemvierteln in Paris einfach ihrem Schicksal überlassen?
So bleibt der weiße Elefant, von dem der verzweifelt um Anpassung bemühte Dheepan gelegentlich träumt, erstmal nur ein Traum, eine Symbolfigur des Friedens. Als der Bandenkrieg eskaliert, versucht Dheepan in einem Akt der Verzweiflung mit Kreide eine Demarkationslinie zu bestimmen, eine no-fire zone zwischen den feindliche Blöcken. Doch die Flüchtlingsfamilie wird unweigerlich in diesen Konflikt hineingezogen, zumal der Sohn des dementen Mannes, den Yalini betreut, einer der Anführer der Bande ist und gerade mit finsteren Plänen aus dem Gefängnis kommt. Interessanterweise, aber überhaupt nicht realitätsfern, wird der Araber entgegen den gängigen Stereotypen von dem schmächtigen, blauäugigen Schauspieler Vincent Rottiers dargestellt. Bei den anrührenden Gesprächen, die er mit Yalini trotz Sprachbarrieren zu führen weiß, wird spürbar, dass auch dieser Mann letztlich niemals eine richtige Wahl hatte, welches Leben er führen möchte. Und auch Dheepan muss in einem etwas aufgesetzt wirkenden kathartischen Showdown seine ramboartigen Kräfte spielen lassen, um seine neue Ehefrau retten. Doch hier endet der Film nicht, sondern bietet noch ein irreal wirkendes Happy End.
Foto: (c) Weltkino Filmverleih
Dämonen und Wunder / Jungle World im Dezember 2015