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(c) 2019 Alamode Film

Leben? Lieber nicht!

Das Sozialdrama „Capernaum – Stadt der Hoffnung“ zeigt Menschen, die keine Chance haben. 

In einer Szene des Sozialdramas »Capernaum – Stadt der Hoffnung« fragt ein Richter einen ungefähr zwölf Jahre alten, in furchtbarer Armut aufgewachsenen libanesischen Jungen, weshalb er seine Eltern verklagen will. »Weil sie mich auf die Welt gebracht haben«, antwortet dieser. 

Was klingt wie die Grundidee zu einem Armutsporno à la »Slumdog Millionaire« ist dank des großen inszenatorischen Geschicks der libanesischen Regisseurin und Drehbuchautorin Nadine Labaki ein großartiger Film über Menschen geworden, die von Geburt an nicht einmal den Hauch einer Chance haben und im titelgebenden Chaos (arabisch »Capharnaüm«) aufwachsen.

Zu Recht bekam Labaki, die sich im letztjährigen Wettbewerb in Cannes als Frau mal wieder mit zwei Kolleginnen gegen 21 männliche Regisseure behaupten musste, dort den Preis der Jury und der Ökumenischen Jury verliehen.

Das grimmig-ernste Gesicht von Zain, der von dem 14-jährige Syrer Zain Al Rafeea gespielt wird, vergißt man nicht so schnell wieder. In langen Rückblenden nimmt man an seinem Schicksal teil: Der in den Slums vonBeirut aufgewachsene Junge stemmt einen von Armut bestimmten Alltag, unter dessen Last jeder Erwachsene zusammenbrechen würde. 

Christopher Aoun folgt ihm durch seine chaotische Welt häufig mit Handkamera und fast durchweg auf Augenhöhe.

Seine verantwortungslosen und erschreckend lieblosen Eltern, die jedoch von Labkin nicht einseitig verurteilt werden, da sie selbst hoffnungslos in der Armutsspirale gefangen sind, konnten es sich nicht einmal leisten Zain und seinen zahlreichen Geschwistern eine Geburtsurkunde ausstellen zu lassen, was ihm von vorneherein jegliche Rechte und Auswege aus seiner Misere verwehrt. 

Als der charakterstarke Junge nicht einmal seine 11-jährige, geliebte Schwester davor schützen kann an den Ladenbesitzer und Eigentümer des baufälligen Mietshauses, in dem die Familie haust, verkauft zu werden, haut er ab. 

Auf seiner Flucht lernt er – neben einem einen Hauch von absurder Poetik verbreitenden, alten Mann in einem Kakerlaken-Superhelden-Kostüm – die sich ebenfalls ihr Leben lang hart durchschlagende und illegal in Beirut lebende Äthiopierin Rahil (Yordanos Shiferaw, die während der Dreharbeiten tatsächlich aus Mangel an Papieren verhaftet wurde) kennen.

Rahil wohnt mit ihrem einjährigen Sohn Yonas (der unfassbar einnehmend von einem kleinen Mädchen verkörpert wird, dessen Elten während des Drehs ebenfalls verhaftet wurden) in einem Bretterverschlag.

Die liebevolle Mutter gewährt Zain Unterschlupf, auch damit er sich um ihren Sohn kümmern kann, während sie arbeiten geht – doch eines Tages taucht sie nicht mehr auf, da sie von der Ausländerbehörde aufgegriffen wurde. 

Nun muss Zain auch noch versuchen, sich und das Baby irgendwie durchzubringen. 

Das neorealistische Meisterwerk wirkt sehr dokumentarisch, was zum einen daran liegt, dass über eine Zeitspanne von sechs Monaten überwiegend an Originalschauplätzen gedreht wurde, zum anderen an den großartigen Laiendarstellern die unter ähnlichen Lebensumständen ihr Dasein bestreiten.

Großartig auch, dass die engagierte Regisseurin, die bezeichnenderweise selbst in einer kleine Rolle als Anwältin von Zain zu sehen ist, auf jegliche Gefühlsduselei verzichtet, was sich auch in Khaled Mouzanars sehr zurückhaltender Musik widerspiegelt– so entsteht ein aufrüttelndes, beinahe kafkaeskes Porträt über Menschen am äußersten Rand der Gesellschaft. 

Das etwas irritierende Happy End für Zain (aber auch für den vor dem Dreh ebenfalls papierlosen Jungen, der ihn verkörpert) kann unter diesen Umständen als Glaube an die Kraft des Kinos und Appell gedeutet werden, nicht ohnmächtig-untätig zuzusehen, wenn überall auf der Welt massiv gegen Kinder- und Menschenrechte verstoßen wird.

Capernaum in nd von Jan. 2019