Foto: (c) Universal Pictures
Die unerträgliche Magie des Augenblicks
Es gibt in der aktuellen Kinolandschaft wohl kaum einen poetischeren und konsequenteren Chronisten als Richard Linklater. Die letzten beiden Jahrzehnte schrieb er mit seiner „Before …“- Reihe Kinogeschichte. Nun widmet sich der Texaner in seinem Langzeitprojekt „Boyhood“, das er über zwölf Jahre verteilt drehte, einer der ganz großen Fragen der Menschheit: Wie wird man in dieser chaotischen Welt zum Mann? Sind es nicht die Augenblicke, die man nicht geplant, vielleicht sogar absolut nicht gewollt hat, die einem zu dem wunderbaren, einzigartigen, komplexen Wesen machen, das man bis dato geworden ist? Um nicht weniger geht es in Linklaters Kinoepos, das bei der diesjährigen Berlinale mit lang anhaltendem Applaus bedacht wurde. Zu Unrecht erhielt das einzigartige Coming-of-Age-Epos letztlich „nur“ den Silbernen Bären für die Beste Regie.
Von 2002 bis 2013 arbeitete der brillante Regisseur und zweifach für den Oscar nominierte Drehbuchautor an insgesamt nur 39 Drehtagen mit dem anfangs sechsjährigen Ellar Coltrane und seiner sympathischen Patchwork-Film-Familie. Der hochtalentierte Coltrane spielt den gleichaltrigen Mason, der mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Sam (Richard Linklaters Tochter Lorelei) bei ihrer alleinerziehenden Mutter Olivia (Patricia Arquette) in Texas lebt.
Als die junge Frau, die im Laufe ihres Lebens immer mal wieder an den falschen Mann geraten wird, beschließt, zurück nach Houston zu ziehen, taucht auch der Vater der Kinder wieder öfter in ihrem Leben auf. Niemand anderes als Linklater-Star Ethan Hawke, der gemeinsam mit Julie Delpy in den drei „Before …“-Filmen zu sehen war, spielt jenen Mason Senior.
In den drei nächsten Kinostunden dieses ungewöhnlichen Projekts, das an beeindruckende Langzeitdokumentationen wie „Die Kinder von Goltzow“ oder Truffauts fünfteilige „Antoine Doinel“- Filmreihe denken lässt, werden die Zuschauer Zeuge von Masons Kindheit und Jugend im konservativen Texas. Sein Aussehen wandelt sich, dem Zuschauer stockt der Atem, wenn er die ersten Bartstoppeln bei Ellar/Mason entdeckt. Die Musik ändert sich von Britney Spears‘ „Oops!..I dit it again“ bis hin zu „Hero“ von Family of the Year, politische Ereignisse beeinflussen am Rande das Leben der Patchwork-Familie, die Technik vom Radio bis hin zum MacBook wechselt ebenfalls.
Man nimmt großen Anteil, wie Mason Senior sich vom Musik machenden Nichtsnutz mit dem Herz am rechten Fleck in einen verantwortungsbewussten, recht biederen Familienvater wandelt. Ihm gehören einige der schönsten Momente des Films, etwa wenn er seinen Kindern beibringt, „richtig“ mit ihm zu reden, seiner Tochter den Kondom-Gebrauch nahelegt oder seinem Sohn beim Gespräch über „Star Wars“ plötzlich ganz nahe ist.
Den ergreifendsten Moment des Films verbucht aber Olivia für sich, wenn sie kurz bevor sie allein in der Wohnung zurückbleibt, sich bitterlich bei ihrem mit dem Auszug beschäftigten Sohn darüber beklagt, dass das nächste größere Ereignis vermutlich ihre verdammte Beerdigung sei. Und was entgegnet der durch schöne und schreckliche Schicksalsschläge gleichermaßen zu einem einzigartigen Mann gereifte Mason seiner wunderbaren Mutter: Überspringst Du nicht gerade 40 Jahre, Mom?
Diese nächsten 40 Jahre möchte man als Zuschauer, wenn der Vorhang nach diesem mit satten 163 Minuten trotzdem viel zu kurzen Film gefallen ist, gerne auch noch miterleben. Sehnlichst hofft man, dass Linklater an seine „Before …“-Tradition anknüpft und alle neun Jahre eine Fortsetzung seines Kinoepos auf die Leinwand bringen wird.
„Es gibt keine echte Magie in der Welt“, sagt der Vater im Film einmal zu seinem Sohn. Doch dieses Drama, das sich unaufdringlich in den Herzen der Zuschauer einnistet, führt diese väterliche Ansicht jedoch ad absurdum. Was Linklater hier abliefert, ist pure Magie – wie sie nur das Kino hervorbringen kann.
Radio Euskirchen / Juni 2014