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Leise Hoffnung auf eine bessere Welt

74. Berlinale: Die Kinder- und Jugendfilme der Reihe Generation reichen vom Familiendrama bis zur Coming-of-Age-Geschichte 

Sie handeln vom Erwachsenwerden und Kinderträumen: Die 17 Filmbeiträge der Berlinale-Sektion “Generation”. Eingeteilt sind sie in die Kategorien “Generation Kplus”, also Filme für Kinder ab sechs Jahren, und “Generation 14plus”, für Jugendliche ab 14 Jahren. Wer den Gläsernen Bären erhielt, entschied eine Berliner Jury aus jungen Köpfen. Zusätzlich zeichnete eine internationale Jury in den gleichen Kategorien aus.

“Nehmt eure Wut und packt sie auf’s Spielfeld”, sagt Lehrer Che im Eröffnungsfilm “Sieger sein” der Generation Kplus auf der diesjährigen Berlinale. Eine große Wut auf die Umstände in denen Kinder und Jugendliche aus aller Welt heutzutage aufwachsen, gepaart mit Ohnmachtsgefühlen und der Schwierigkeit ihren Weg zu finden, zog sich durch viele Filme der Sektion. Freundschaft und Solidarität waren häufig die einzigen Anker. 17 internationale Spielfilme und etliche Kurzfilme konkurierten in diesem Jahr um den Gläsernen Bären.

Der zweite Spielfim der kurdisch-deutschen Regisseurin Soleen Yussefs will streckenweise zu viel erzählen, dennoch weiß er zu berühren. Erzählt wird die Geschichte nämlich aus der Sicht einer Verliererin: Das syrische Flüchtlingsmädchens Mona muss sich in einer Weddinger Problemschule zurechtfinden. In Rückblenden erfahren wir von ihrem Leben in ihrer Heimat. Gelegentlich spricht Mona auch direkt zum Publikum. An ihrer neuen Schule geht es rau zu, und die Elfjährige wird zunächst gemobbt. Lehrer Che ermuntert sie, der Mädchen-Fußballmannschaft beizutreten. Im Endspiel gegen die erfolgswöhnten Mädchen aus Charlottenburg müssen die vom Schicksal nicht gerade begünstigten Weddinger all ihren Optimismus und frisch gewonnenen Teamgeist in die Waagschale werfen. Der Familienfilm, der leider streckenweise wie eine überambitionierte Unterrichtsstunde in Sachen Krieg, Flucht, Rassismus und Demokratie wirkt, kommt im April ins Kino. 

Ganz anders das Coming-of-Age-Drama “Ellbogen” von Aslı Özarslan, das in der Sektion 14plus zu sehen war. Auch die 17-jährige Hazal, beeindruckend verkörpert von Melia Kara, ist im Berliner Problemkiez Wedding aufgewachsen. Täglich wird sie mit ihrer Chancenlosigkeit aufgrund ihrer türkischen Herkunft konfrontiert. Ihre Suche nach einem Ausbildungsplatz scheitert. Sie wird ungerechterweise des Diebstahls bezichtigt. Selbst ihre Mutter glaubt nicht an sie. An ihrem 18. Geburtstag wird Hazal mit ihren Freundinnen dann auch noch an einer Clubtür abgewiesen. Überall bekommt sie zu spüren: Sie gehört nicht dazu. Als sie dann noch ein Typ am U-Bahnhof sexistisch und rassistisch anmacht, entlädt sich ihre ganze angesammelte Wut. Versehentlich schubst sie den jungen Mann auf die Gleise. Hazal sieht sich gezwungen, nach Istanbul zu fliehen. Doch dort ist sie nur die “Deutschländerin”, ihre Chancen Fuß zu fassen, stehen schlecht. 

Die Handkamera ist immer ganz nah dran an Hazal. Im Gegensatz zur literarischen Vorlage, dem gleichnamigen Roman von Fatma Aydemir konzentriert sich Özarslans Spielfilmdebüt mehr auf die Gefühlswelt Hazels, ohne deshalb weniger politisch zu sein. Das Ende bleibt offen, bietet zum Glück keine unrealistische Lösung an und Hazals letzter, selbstbestimmter Blick in die Kamera wirkt noch lange im Zuschauer nach. Filmstart ist im Oktober.

Der Gläserne Bär in dieser Sektion ging jedoch an Philippe Lesages Drama “Comme le feu” (Wie Feuer). Gekonnt zeigt er auf, wie die Egos frustrierter Männer die Freiheit und Entwicklung Jugendlicher empfindsam stören können: Autor Albert besucht mit seinen beiden jugendlichen Kindern Max und Aliocha, und Max bestem Freund Jeff, seinen ehemaligen Regisseur Blake, mit dem er einst viele Projekte verwirklicht hat. Dieser wohnt in einer weit abgeschiedenen Blockhütte in der Wildnis Quebecs. Zwischen beiden kommt es zu heftigen Wortgefechten bis sie im Alkoholrausch, und vor den Augen der Jugendlichen, aufeinander losgehen. Bei einer Wildwasser-Rafting-Tour eskaliert die Situation schließlich völlig. Laut der Jury steht der komplexe Film in der Tradition von Bergman und Tschechow.

Eine lobende Erwähnung in der gleichen Kategorie von der internationalen Jury erhielt der semidokumentarische Spielfilm “Maydegol” von Sarvnaz Alambeigi. Allein “dessen Existenz sei schon ein politischer Akt”, hieß es in der Beurteilung. Die Geschichte handelt von der 19-jährigen Afghanin Maydegol, die als staatenlose Frau mit einem gewalttätigen Vater im Iran lebt. Ihr großer Traum ist es, der afghanischen Muay-Thai-Boxmannschaft beizutreten. Dafür arbeitet sie auf einer Pilz- und einer Obstfarm, um ihre Ausbildung zu finanzieren. Sogar eine Scheinehe zieht sie in Betracht, um ihrer ausweglosen Situation zu entkommen. Am Ende bleibt offen, ob es der jungen Frau gelingt, ihrer ausichtlosen Zukunft zu entfliehen. Der Zuschauer wünscht es ihr auf jeden Fall von Herzen. 

Ganz andere Probleme hat der 14-jährige Elias (Lou Goossens) in Anthony Schattemans Kinodebüt “Young hearts”, das von der Kinderjury eine “Lobende Erwähnung” erhielt. Das Coming-of-Age-Drama beginnt mit dem Auftritt seines peinlichen Vaters: Der ist ein selbstverliebter Schlagersänger und performt voller Inbrunst seinen Hit “Die erste Liebe”, während Elias den Merchandise-Stand betreut. In der Schule wird er deswegen manchmal gehänselt. 

Doch die eigentlichen Probleme beginnen erst, als Alex (Marius De Saeger) gegenüber einzieht. Der schüchterne Elias verknallt sich nämlich sofort in ihn, obwohl er doch eigentlich mit einem Mädchen zusammen ist! Dennoch freundet er sich mit dem selbstbewussten Alex an, der bereits zu seinem Schwulsein steht. Eine Szene bei der Elias gemeinsam mit Alex am Klavier sitzt und ihn verliebt anschmachtet, geht unter die Haut. Zutiefst beeindruckend wie die beiden Schauspieldebütanten in ihren Rollen aufgehen. Doch Elias kämpft lange gegen seine Gefühle an. Zum Glück findet wenigstens sein Opa noch Zugang zu ihm. Bei der umjubelten Premiere in Berlin, erzählte der Regisseur, er habe den Film gemacht, den er selbst als Junge gebraucht hätte. Einen schwulen Coming-of-Age-Film ohne explizite Sexszenen. Gedreht übrigens an den Orten seiner Kindheit. Die begeisterten Kommentare des Publikums gaben ihm recht. 

Einen schwierigen Vater haben auch Lucía und ihre große Schwester Aurora in “Reinas”, einem Film der schweizerisch-peruanische Regisseurin Klaudia Reynicke. In Berlin gewann er der den Großen Preis der Internationalen Jury für den besten Film in der Sektion Kplus erhielt. In Peru Anfang der 90er Jahre beschließt Mutter Elena wegen der Wirtschaftskrise und aufständischen Guerillatruppen mit ihren Töchtern nach Amerika auszuwandern. In den letzten Wochen vor dem Aufbruch ermuntert Elena den Vater der Mädchen, Carlos, noch einmal etwas mit seinen Töchtern zu unternehmen. Carlos schlägt sich als Taxifahrer durch, gibt aber je nach Laune vor, Schauspieler, Archäologe oder Geheimagent zu sein. Er will die beiden, die er seine “Reinas” (Königinnen) nennt, schließlich nicht mehr ziehen lassen. Geschickt bettet Reynicke die komplexe Familiengeschichte in einen historischen Kontext ein. Dabei bleibt sie aber immer auf Augenhöhe mit den Schwestern. Die wie ausgeblichen wirkende Farbpalette des autobiographisch inspirierte Familiendramas unterstreicht kunstvoll den Einblick in vergangene Zeiten. Ein Film, wie ihn das Berlinale-Publikum liebt, der altersgerecht aufzeigt, wie sehr die gesellschaftlichen Verhältnisse das Leben der Heranwachsenden beeinflußt.

Eine lobende Erwähnung von der Internationalen Jury in der Kategorie Generation Kplus erhielt das peruanisch-chilenische Sozialdrama “Raíz” von Franco García Becerra. In der atemberaubend fotografierten Anden hütet der achtjährige Feliciano täglich die Alpaka-Herde seiner Eltern. Sein Hund und sein geliebtes Alpaka “Ronaldo” sind seine einzigen Ansprechpartner, Fußball seine große Leidenschaft. Bedroht wird die idyllische Lebensweise durch einen Minenkonzern, der immer mehr Land aufkauft. Als etliche Alpakas im Dorf tot aufgefunden werden und auch Felicianos tierische Begleiter verschwunden sind, spitzt sich die Lage zu. Erzählt wird die Geschichte aus Felicianos magisch-realistischer Perspektive. Damit ist er ein schönes Beispiel für die diesjährigen Filme in der Sektion “Generation”, die aufzeigen, wie die Träume der Heranwachsenden mit der Realität kollidieren – ohne dass sie sich damit abfinden. 

Ihre Resilienz, ihre Fähigkeit zu Freundschaft, Liebe und grenzenlosem Denken wecken leise Hoffnung auf eine bessere Welt.

Foto (c) Berlinale – Achtung Panda!

In: Die Rheinpfalz von März 2024