S

Seinen Platz in der Welt finden

75. Berlinale: Die Kinder- und Jugendfilme der Reihe Generation zeigen Möglichkeitsräume zwischen Gemeinschaft, Kreativität und Selbstbestimmung auf

„In der Manege musst du zeigen, was in dir steckt – mit aller Kraft und Liebe“ sagt der 80-jährige Zirkusdirektor Georg Frank in dem großartigen Dokumentarfilm „Zirkuskind“ zu seinem elfjährigen Urenkel Santino. Der Film erhielt bei seiner Premiere auf der Berlinale in der Sektion Generation Kplus, also der Reihe mit Filmen für Kinder ab fünf Jahren, begeisterten Zwischenapplaus und bekam von der Kinderjury eine Lobende Erwähnung. Insgesamt 19 Kplus- und 14plus-Langfilme – für Jugendliche ab 14 Jahren – konkurrierten neben Kurzfilmen in der Sektion Generation um die begehrten Bären.

Der dritte Film von Anna Koch und Julia Lemke wurde mit einem unkonventionellen Blick auf den Zirkusalltag gemacht. Die Doku ist in Jahreszeiten gegliedert und einfühlsam fotografiert. Immer wieder erzählt Opa Ehe, wie sein Urenkel ihn nennt, Santino von seinem langen Zirkusleben – von seinem ersten Auftritt, vom Elefanten Sahib, aber auch die Nazizeit spart er nicht aus. Dazu sieht man kindgerechte Animationen, die ein vertrautes Sendung-mit-der-Maus-Gefühl verbreiten.

Das aufregende Zirkusleben zwischen Wohnwagen, Proben, Zeltauf- und -abbau und Fütterung der Tiere hat natürlich auch seine Schattenseiten: In jeder neuen Stadt muss Santino sich wieder in der örtlichen Schule vorstellen und versuchen, Anschluss zu finden. Doch glücklicherweise hat Santino eine riesige Familie, auf die er immer zählen kann. Ihr Zusammenhalt und ihre gegenseitige Toleranz machen den ab sieben Jahre geeigneten Dokumentarfilm in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung auch zu einer berührenden Parabel über die Grundpfeiler menschlichen Zusammenlebens – für jede Altersliga. Der Film startet voraussichtlich im Herbst in unseren Kinos.

Auch in vielen anderen Filmen dieser Sektion müssen die jungen Protagonisten in der Manege des Lebens ihren eigenen Weg finden. Die 15-jährige „Sunshine“ in dem gleichnamige Film von Antoinette Jadaone, der in der Sektion 14plus den Gläsernen Bären der Jugendjury gewann, verfolgt besonders eisern ihren Lebenstraum. Seit ihrer Kindheit trainiert sie täglich rhythmische Sportgymnastik, um mit der philippinischen Nationalmannschaft bei Olympia antreten zu dürfen. Als der Traum endlich zum Greifen nah ist, stellt die von Marie Rascal glaubwürdig verkörperte Sunshine fest, dass sie schwanger ist. Schwangerschaftsabbrüche sind auf den katholisch geprägten Philippinen aber ausnahmslos verboten. Verfolgt von einem imaginären kleinen Mädchen, das ihren Gewissenskonflikt zum Ausdruck bringt, entschließt sie sich dennoch auf dem Schwarzmarkt ein dubioses Abtreibungsmedikament zu besorgen. Die Jugendjury hob zu Recht die „düstere, aber hoffnungsvolle und ermutigende Atmosphäre“ des Film hervor, der über die grausamen Konsequenzen eines strikten Abtreibungsverbots nachdenken lässt.

Mit dem Großen Preis der Internationalen Jury in der Sektion Kplus wurde dagegen der meditative Debütfilm „Der Botaniker“ von Jing Yi ausgezeichnet. In einem abgelegenen Dorf, im Norden Chinas, an der Grenze zu Kasachstan, lebt der 13-jährige Arsin. Die traumhafte Landschaft wird von Kameramann Li Vanon großartig eingefangen. Es sind Sommerferien und der Junge beschäftigt sich den ganzen Tag mit Pflanzen, füllt sein Herbarium. Darin gleicht er seinem Onkel, der unter mysteriösen Umständen verschwunden ist. Ab und an trifft Arsin sich mit dem chinesischen Mädchen Meiyu, gern stromern die beiden durch die Natur und treffen dabei auch schon mal auf ein sprechendes Pferd. Doch schon bald muss Arsin damit zurechtkommen, dass sowohl seine Sommerliebe Meiyu, als auch sein Bruder demnächst wieder fortziehen. Ein Coming-of-Age-Film mit poetischen Bildern, den man wirken lassen muss, wie ein Gedicht.

Der gleichnamige Held des Eröffnungsfilms „Christy“ von Jungregisseur Brendan Canty, der den Großen Preis der Internationalen Jury in der Sektion 14plus gewann, muss viel Mut und Widerstandskraft aufbringen, um den Verhältnissen aus denen er stammt, zu entkommen. Das Drama spielt im Norden Corks, bekannt geworden durch den Song „The Spark“ eines Jugendrapprojekt. 2024 ging dieser viral – viele der enthusiastischen Sänger spielen bei „Christy“ mit und geben auch wieder einige Raps zum Besten. Diese Passagen erinnern an den anarchischen Sundance-Liebling „Kneecap“ über das gleichnamige Rapper-Trio, der ebenfalls in Irland spielt.

Nachdem der 17-jährige Christy seinen Platz bei einer Pflegefamilie verloren hat, schlüpft er übergangsweise bei seinem Halbbruder Shane unter, der davon aber nicht sonderlich begeistert ist. Beide hatten einen schweren Start ins Leben, ihre Mutter starb früh an einer Überdosis Drogen, die Kinder landeten in Pflegefamilien- bzw. einrichtungen. Zudem hat sich Shane gerade ein normales Leben als Familienvater aufgebaut. Ebenso wie Shane bangt der Zuschauer mit Christy, ob dieser es schafft, sich dem Bannkreis des kriminellen Teils seiner Verwandtschaft zu entziehen. Doch langsam fügt sich Christy in die Gemeinschaft des ärmsten Vororts Corks ein, deren Einwohner bei all ihren Problemen von einer ansteckenden Lebensfreude erfüllt sind. Und er entdeckt, dass er das Frisörtalent seiner Mutter geerbt hat. Sein Haarschnitt „Christy Special“ ziert schon bald so einige Köpfe der Dorfbewohner. Der zwischen Wut und Verletzlichkeit schwankende Christy wird herausragend von Danny Power in seinem Langfilmdebüt verkörpert. Er erinnert an „Saltburn“-Shooting-Star Barry Keoghan, der ebenso wie Power vor ein paar Jahren in einem Kurzfilm Cantys mitspielte.

Eine Lobende Erwähnung der Internationalen Jury erhielt „Têtes brûlées“ von Ajmia Zellama aus der Sektion Kplus. Auch in diesem belgischen Sozialdrama über Trauer spielt Rapmusik eine Rolle. Die zwölfjährige Eya, die in einer tunesisch-muslimischen Familie in Brüssel aufwächst, liebt ihren großen Bruder Younes über alles. Sie hört seine Musik, trägt gerne seine T-Shirts. Wenn der fürsorgliche, junge Mann sie auf dem Motorrad von der Schule abholt, huscht ein stolzes Lächeln über ihr Gesicht. Ebenso zärtlich schaut er sie an, wenn sie ihm und seinen Freunden einen Vortrag hält. Doch dann stirbt ihr Bruder unter ungeklärten Umständen, die souveräne Kameraarbeit von Grimm Vandekerckhovekündigt diesen unvorstellbaren Verlust vorher bereits subtil an. Für Eya bricht eine Welt zusammen. Doch die tröstenden Trauerrituale, die der Islam vorsieht und das Zusammensein mit Younes empathischen und ebenfalls zutiefst trauernden Freunden, sowie das Tanzen zur Rap-Musik, helfen Eya, ihren Verlust zu verarbeiten. Ein wichtiger Film, der in Zeiten der aufkeimenden Muslimfeindlichkeit die positiven Seiten des Islam hervorhebt.

Auch Maya und ihrem Vater, dem französischen Regisseur Michel Gondry, hilft eine Form der Kreativität in dem wunderbaren Stop-Motion-Film „Maya, schenk‘ mir einen Titel“, besser damit klarzukommen, dass sie oft voneinander getrennt sind. Die Kinderjury der Sektion Kplus verlieh diesem filmischen Liebesbrief des Berlinale-Veteranen – aus dem in diesem Jahr besonders starken Animationsprogramm dieser Sektion – den Gläsernen Bären für den besten Film.

Als Gondry, der vielen auch durch seine zahlreichen Musikvideos für Björk oder Radiohead bis hin zu Paul McCartney bekannt ist, eines Tages auf seinem Smartphone eine Funktion entdeckte, die „das Leben in einen Cartoon verwandeln“ konnte, ermunterte er seine Tochter Maya ihm Titel für eine Gutenachtgeschichte zu schicken. Papa packte Schere und Papier aus, dachte sich eine fantasievolle Geschichte dazu aus, animierte sie dann, Mama las sie vor und Maya guckte sie sich an. Ihren ersten kleinen Animationsfilm bekam sie zu ihrem dritten Geburtstag. Um seine Tochter in die Veröffentlichung ihres ursprünglich privaten Projekts einzubinden, hatte sie ein Mitspracherecht bei der Auswahl und stellt die Filmchen jeweils vor.

Die fantasie- und humorvollen Filme, die auch Gondrys persönliche Entwicklung bei diesem Projekt zeigen – von Zeitraffer-Filmchen über beschleunigte Sequenzen bis hin zu echten Animationen – handeln beispielsweise von einem Erdbeben, von einem verrückten Flugzeug, von Maya als Polizistin oder Seejungfrau. Untermalt sind sie von comichafter Orchestrierung. Und nicht Mayas Mutter liest dieses Mal die Textfelder vor, sondern der bekannte Schauspieler Pierre Niney, der zufällig auch noch Gondrys talentiertes Patenkind ist. Dieser poetisch-amüsante Film, der schon für Fünfjährige geeignet ist, strahlt einen ansteckenden Do-it-yourself-Charme aus. Man möchte am liebsten gleich selbst damit loslegen, mit dem Handy seinen eigenen Stop-Motion-Film zu drehen. Eine schönere Liebeserklärung an das Kino, aber auch an die Kreativität, die in jedem von uns schlummert, kann man sich kaum vorstellen. Damit reiht der Film sich in ein in diesem Jahr ausgesprochen starkes Programm in dieser Sektion ein, in der das Kino als Erfahrungsraum den jungen Menschen vielfältige Denkanstöße gab, wie man seinen Platz in einer kompliziert gewordenen Welt finden kann.

Foto (c) Flare Film

In: Rheinpfalz / März ’25