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Freiräume für die Fantasie

Neue Filme für Kinder und Jugendlich aus der Berlinale-Reihe Generation

Drei Jahre Coronapandemie, Schul- und Kitaschließungen haben den jungen Menschen in aller Welt ganz schön zugesetzt. Zum Glück gibt es auf der Berlinale – im Gegensatz zu großen Festivals wie in Cannes oder Venedig – auch Kinder- und Jugendfilme: in der Sektion Generation, die noch einmal in die Reihen Kplus (für Kinder ab fünf Jahren) und 14plus (für Teenager) unterteilt ist. In diesem Jahr wurden von dem neuen künstlerischen Leiter Sebastian Markt und der Sektionsmanagerin Melika Gothe 25 Lang- und 31 Kurzfilme aus aller Welt präsentiert. Erfreulicherweise hatte die meisten Filme zwar durchaus die Realität im Blick, ließen jedoch auch ausreichend Freiräume für Fiktion. Auf das unsere Kinder hoffentlich ein schöneres Morgen kreieren mögen.

„Mimi“, der Gewinnerfilm des Großen Preis der Jury aus der Sektion Generation Kplus ist ein wunderbares Beispiel dafür. Mit seiner walddurchtränkten Stimmung und seinem verträumten Tempo bewegt er sich auf der Grenze zwischen Realität und Fantasie. In dem vierten Spielfilm der slowakischen Regisseurin und Drehbuchautorin Mira Fornay, der für Kinder ab fünf Jahren geeignet ist, macht sich die siebenjährige Romy (Rozmarína Willems) auf die Suche nach dem titelgebenden Wellensittich, der ihr entflogen ist. Ihre Mutter kauft ihr einen neuen, doch das Haustier ist für Romy nicht einfach austauschbar. Allenfalls eignet sich der Nachfolger dazu, mit ihm in den nahegelegenen Wald auszuziehen, um so möglicherweise ihre geliebte Mimi anzulocken. Unterwegs trifft das entschlossene Mädchen – wie in einem modernen Märchen – sowohl unwirkliche, als auch sehr real wirkende Charaktere. So begegnet Romy einem deutschen Soldaten, der immer noch auf das Ende des Krieges wartet, sie gibt den Ameisen eine Botschaft für Mimi mit auf den Weg, trifft aber auch auf ein paar im Wald campierende Kinder, die sie bei ihren Vorhaben unterstützen. In noch vom kindlichem magischen Denken beseelten Bildern und konsequent aus der Kinderperspektive zeigt Fornay, wie wichtig die Natur für die Entwicklung und Kreativität unserer Kinder ist – eine Ressource, die es mit aller Kraft zu schützen gilt.

Die 14-jährige Margaux (Clarisse Moussa) streift in dem melancholischen Coming-of-Age-Film „L’Amour du Monde“ von Jenna Hasse, der in der gleichen Sektion eine lobende Erwähnung erhielt, ebenfalls zunehmend durch die märchenhaft wirkende Natur in der Nähe des Genfer Sees. Statt einen Urlaub an Social-Media tauglichen Orten verleben zu können – wie ihre Freundinnen – muss sie in den Sommerferien in einem Kinderheim ein Praktikum machen.

Fast magische Natur

Dort trifft das introvertierte Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden auf die siebenjährige, vernachlässigte Halbwaise Juliette zu der sie einen Draht entwickelt. Als die renitente Kleine ihr einmal entwischt, rettet der junge Fischer Joël sie aus dem Wasser. Margaux gefällt der junge Mann, der eigentlich in Indonesien als Taucher arbeitet, aber zu Beerdigung seiner Mutter zurückgekehrt ist. Bei gemeinsamen Ausflügen durch die von flirrendem Sonnenlicht verzauberte Natur verarbeiten die drei so unterschiedlichen Fremden ihre Gefühle über ihre unsichere Zukunft und Margaux, die sich gern aus der Realität weg träumt, beginnt – eingefangen von der wunderbaren Kamera von Valentina Provini – zaghaft, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln.

Auch in „Hummingbirds“, der in der Generation 14plus den Großen Preis der Internationalen Jury gewann, geht es um zwei Menschen, die durch ihre Freundschaft wachsen. Beba und Silvia sind sowohl beste Freundinnen, als auch Regisseurinnen und die Protagonistinnen dieses Dokumentarfilms, der den Zuschauer*innen einen autofiktionalen Einblick in ihr Leben in Loredo, einem Ort nah der mexikanischen Grenze gewährt. Ihre Mütter sind illegal mit ihnen eingewandert. Silvia, die damals noch im Mutterbauch war, ist somit gebürtige Amerikanerin, aber Estafania hat immer noch keinen legalen Statuts. Das Einwanderungsverfahren stockt und die Abschiebung droht. Ein Leben auf dem Abstellgleis. Gut, dass sie einander haben, um Sehnsüchte und Träume miteinander zu teilen. So genießen die jungen Frauen in dem staubigen Grenzland – trotz des Damoklesschwerts, das ständig über ihnen schwebt – ihre gemeinsame Zeit, lassen sich treiben, machen Musik, spielen Bingo, albern rum oder protestieren gegen Abtreibungsgegner*innen und die Gewalt der Grenzschützer*innen. Ihr unbeugsamer Wille zur Selbstbestimmung trotz ihrer schwierigen Lage beeindruckt, leider lässt sich der Film jedoch genauso treiben wie seine Hauptdarstellerinnen. Mehr Struktur hätte ihm gutgetan.

Eine Lobende Erwähnung der Internationalen Jury in dieser Sektion erhielt noch das großartige Kinodebüt „Mutt“, das bereits in Sundance seine Premiere feierte und dramaturgisch wohlüberlegt von 24 emotional bewegenden Stunden im Leben eines Transmenschen erzählt. Nach der Transition trifft Transmann Feña (sehr überzeugend: Lío Mehiel) zufällig seinen Ex-Freund wieder, der ihn noch als Frau kannte und zu dem er sich immer noch hingezogen fühlt. Zudem taucht plötzlich auch seine kleine Halbschwester wieder auf, die nicht verwunden hat, dass Feña sich aus ihrem Leben verabschiedet hat. Außerdem muss Feña auch noch ihren Vater (der bekannte chilenische Schauspieler Alejandro Goic) vom Flughafen abholen, der ihn noch nicht als Mann gesehen hat. Regisseur Vuk Lungulov-Klotz, der selbst Trans ist, bringt dem Publikum nahe, mit welchen Herausforderungen Transmenschen zu kämpfen haben. Den ganzen Tag scheint Feña sich für seine Wahl, er selbst zu sein, rechtfertigen zu müssen. Doch sowohl seine Schwester, als auch sein Vater lieben und akzeptieren ihn letztlich, wie er ist – nur die Liebe zu seinem straighten Ex-Freund hat wohl keine Zukunft.

Die Berlinale wäre nicht ein ausgewiesenes Publikumsfilmfest, wenn es nicht auch eine Kinderjury gäbe, die ganz andere Filme prämiert hat.In der Generation Kplus favorisierten sie den australische Debütfilm „Sweet As“ von Jub Clerc. „Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Was ist deine?“ fragt darin der Betreuer einer Fotosafari für benachteiligte Jugendliche die 16-jährige Aborigine Murra, die großartig von Shantae Barnes-Cowan gespielt wird. Murras Mutter vernachlässigt die Tochter. Nur bei ihrem Onkel, einem Cop, findet sie Zuflucht. Er organisiert für sie auch diesen besonderen Trip. Murras gleichaltrige Reisegefährten haben ebenfalls ihre Päckchen zu tragen: Sean ist suizidgefährdet, Kylie steckt in einer toxischen Beziehung fest und Elvis muss einen traumatischen Übergriff verarbeiten. Doch diese Themen werden leider recht oberflächlich behandelt. Regisseurin und Autorin Jub Clerk, die selbst eine ähnliche Geschichte erlebt hat, erzählt stattdessen eine konventionelle Coming-of-Age-Geschichte – jedoch in atemberaubender Landschaft. Gedreht wurde im Karijini National Park im Outback in Westaustralien. Im Land ihrer Ahnen entdeckt Murra ihre Liebe zur Fotografie – allerdings mit einem irritierend speckigen Objektiv. Außerdem schließt sie Freundschaften, verliebt sich zum ersten Mal und findet ein Stück weit zu sich selbst. Die Kinderjury schien es nicht zu stören, dass die Geschichte recht stereotyp erzählt wurde.

Eine Lobende Erwähnung erhielt von ihnen auch der belgische Debütfilm „Meeresleuchten“ von Domien Huyghe. Das Drama erzählt von kindlicher Trauer, die mit Hilfe der Kraft der Fantasie bewältigt wird. Die 12-jährige Lena, gespielt von Saar Rogiers mit starker Leinwandpräsenz, liebt ihren Vater Antoine und das Meer über alles. Doch kurz nachdem sie mit ihrem winzigen Segelboot ein Rennen gewonnen hat, ertrinkt Antoine und zwei seiner Fischerkollegen. Bei der Seebestattung meint Lena einen riesigen Schatten im Meer gesehen zu haben und ist fortan überzeugt, dass ein Seemonster ihren Vater auf dem Gewissen hat. Ihre beste Freundin Kaz, deren Vater auch ertrunken ist, legt ein Erinnerungsbuch an, Lenas Bruder schreibt einen Rapsong für seinen verunglückten Vater, und ihre Mutter hängt im Fischgeschäft alle Fotos ab, die sie an ihren Mann erinnern. Die eigensinnige Lena aber macht sich mit ihrem neue Kumpel Octopus Boy, der ihr ihre Monstertheorie und ihre Wut lässt, auf die Suche nach dem schrecklichen Seeungeheuer.

In der Sektion Generation 14plus bekam das mexikanische Boy-meets-Girl-Filmdebüt „Adolfo“ den Preis der Jugendjury. Momo, Hugo und sein titelgebender Kaktus „Adolfo“ treffen sich zufällig nachts an einer Bushaltestelle. Momo kommt gerade aus dem Drogenentzug, und Hugo ist auf dem Weg zur Beerdigung seines Vaters, der sich umgebracht hat. Gemeinsam streifen sie durch die märchenhaft wirkende Nacht, auf der Suche nach einem neuen Zuhause für Hugos widerstandsfähigen Kaktus, der Hugos Vater gehörte,  aber auch nach neuem Halt für ihre zutiefst erschütterten Seelen. Ein angenehm ruhig erzählter Film, der von der Kraft der ersten Liebe erzählt.

Ukrainische Träume

Drei weitere Filme dieser Sektion, die nicht prämiert worden sind, würden auf jeden Fall einen regulären Kinostart verdienen. Im norwegischen Wohlfühlfilm „Dancing Queen“ von Aurora Gossé befreit sich das liebenswerte Mathe-As Mina (mitreißend: Liv Elvira Kippersund Larsson) durch die Teilnahme an einem Tanzwettbewerb von Selbstzweifeln und negativen Körperbildern. Im anrührend gezeichneten Animationsfilm „A Greyhound of a Girl“ – nach einer Buchvorlage von Roddy Doyle – muss die aufgeweckte Mary die geliebte Großmutter Emer, die ihr ihren Eigensinn und ihre Kochleidenschaft vererbt hat, gehen lassen. Fünf Jugendliche aus der Ukraine porträtiert der Dokumentarfilm „We Will Not Fade Away“. Sie sind in der ostukrainischen Donbass-Region aufgewachsen, direkt an der Frontlinie. Eine von einem ukrainischen Sportreporter organisierte Himalaya-Expedition soll ihnen eine kleine Atempause vom Krieg gönnen. Obwohl kurz nach ihrer Rückkehr die Russen in ihre Heimat einmarschiert sind, erfahren wir im Abspann, dass es zumindest einige von ihnen gelungen ist, wegzugehen und ihren Träumen näher zu kommen.

So steht dieser Dokumentarfilm noch einmal dafür, was die spannende Auswahl an Filmen für Kinder und Jugendliche in diesem Jahr ausgezeichnet hat: Bei allem Blick auf die harten Realitäten bleibt immer noch genug Raum für Phantasie. Und für Hoffnung.

Foto (c) Filmtopia

In: Rheinpfalz / März 2023