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Opfer eines Horrorstaats
Der spannende Psychothriller „Berlin Syndrom“ von Cate Shortland ist erfreulich vielschichtig.
„Du kannst ruhig laut stöhnen, hier hört Dich niemand“, ermuntert Claires One-Night-Stand die schüchterne Australierin zu Beginn des Psychothrillers „Berlin Syndrome“. Doch welcher Horror sich hinter dem zärtlichen Ins-Ohr-Geraune des Fremden verbirgt, wird die junge Backpackerin nur wenig später erfahren. Der Mann, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hat, ist nämlich doch kein netter Berliner Lehrer, sondern ein Psychopath – und seine Wohnung wird sie womöglich nie wieder lebend verlassen. Cate Shortland erforscht in ihrem spannenden, dritten Langspielfilm mit differenziertem Blick das Verhältnis zwischen einem Kontrollfreak mit traumatischem DDR-Hintergrund und dessen Opfer, das unter Extrembedingungen über sich hinauswächst.
Die Fotografin Claire (Teresa Palmer, die mit ihrem eher zurückgenommenen Spiel stellenweise an Kristen Stewart erinnert) ist eigentlich nach Berlin gekommen, um ein wenig Lebenserfahrung zu sammeln. Während sie interessiert an DDR-Architektur mit suchendem Blick durch die Straßen streift, lernt sie vermeintlich zufällig den sympathischen Englischlehrer Andi (beeindruckend verkörpert von Max Riemelt) kennen. Lediglich dessen ziemlich schlechtes Englisch wirkt bei seiner Profession recht unglaubwürdig und lässt den Zuschauer ungewollt schmunzeln. Die Chemie zwischen den beiden macht das aber mehr als wett.
Ziemlich rasch landen die beiden im Bett in der in einem erschreckend leeren Haus gelegenen Wohnung von Max. Claire, die eigentlich nach Dresden weiterziehen wollte, möchte nun doch bleiben, was sich allerdings als größter Fehler ihres Lebens erweisen wird. Als sie am nächsten Morgen allein und eingeschlossen aufwacht, denkt sie zunächst, Max habe nach der Liebesnacht versehentlich zugesperrt und vergessen, ihr einen Schlüssel dazulassen.
Doch schon bald merkt sie, dass er ein Soziopath und sie seine Gefangene ist, der er heimlich im Schlaf „Meine“ auf die Schulter geschrieben hat. Im Folgenden macht sie unterschiedliche Stadien des Aufbegehrens, der Ohnmacht und der Anpassung durch. Ihre Beziehung zu ihrem Peiniger pendelt in ihrer Todesangst zwischen Hass und Zuneigung, ein Phänomen, das auch als Stockholm-Syndrom bekannt ist und Pate für den Titel des Films stand.
Beeindruckend, wie Cate Shortland gemeinsam mit ihrem Kameramann Germain McMicking zu Beginn die Spree-Metropole in Szene setzt. Dabei erzeugt sie beiläufig eine für die Hauptstadt typische Stimmung, die den Zuschauer zum Schluss führt, dass dieser Horrortrip so eigentlich nur in der ehemals geteilten Stadt spielen konnte.
Drehbuchautor Shaun Grant, der die Romanvorlage von Melanie Joosten bearbeitet hat, gelang es zudem, sich von thematisch ähnlichen Psychothrillern angenehm abhebende, vielschichtige Figuren zu zeichnen, die nicht bloß Täter und Opfer sind. Geschickt deutet er Max‘ traumatisierende DDR-Vergangenheit an. Seine Mutter hat ihn früh verlassen, um in den Westen zu fliehen. Er wuchs bei seinem Vater auf, einem Professor, der den rigiden Kontrollstaat der DDR auch heute noch verteidigt. Zu ihm hat Max ein enges, doch zwiespältiges Verhältnis.
Wie sehr ihn dieses Aufwachsen geprägt hat, bekommen die jungen Frauen zu spüren, die der Kontrollmensch bei sich in der Wohnung einsperrt, um mit ihnen eine „perfekte“ Beziehung zu führen. Allerdings nur so lange, bis sie ihn zu langweilen beginnen. So muss auch Claire allmählich begreifen, dass sie nicht das erste Entführungsopfer war und vermutlich auch nicht das letzte sein wird. Diese schreckliche Erkenntnis führt zu einem genretypischen Finale, das etwas zu klischeehaft inszeniert ist und somit stets ins Lachhafte zu kippen droht. Dennoch bleibt es spannend bis zum Schluss und dank seiner interessanten psychologischen Ebene wirkt der Horrorthriller noch länger nach.
Stimme / Juni 2017