Der Preis unsterblicher Momente
In »Babylon – Rausch der Ekstase« inszeniert Damien Chazelle die Hollywood-Maschinerie der 20er Jahre als überaus maßlos und kompetitiv – das überfordert zuweilen auch das Publikum
Im Jahr 2016 schenkte der damals erst 31-jährige Regisseur Damien Chazelle der Traumfabrik Hollywood eine mitreißend-nostalgische Liebeserklärung mit seinem Film-Musical »La la Land«. Sechs Jahre später, in seinem Mitte der 20er Jahre spielenden Epos über das Ende der Stummfilmära – als »The Jazz Singer«, einer der ersten Tonfilme, die Kinowelt revolutionierte – scheint davon nicht viel übrig geblieben: Gleich zu Beginn von »Babylon – Rausch der Ekstase« lässt ein Elefant, der zu einer dekadenten Filmparty in Bel Air transportiert werden soll, eine nicht enden wollende Menge Kot auf einen unschuldigen Helfer niederregnen. Auf dem Fest, das mehr einer Orgie gleicht, werden Unmengen von Alkohol und Drogen konsumiert, es wird kopuliert und uriniert und zu guter Letzt wird der Dickhäuter in den Raum gebracht, um ein Starlet, das gerade an einer Überdosis verreckt ist, unauffällig fortschaffen zu können. So eine meisterhaft inszenierte, höllische Partyszene hat man noch nie im Kino gesehen.
Die von Margot Robbie ein wenig zu distanziert, aber mit atemberaubendem Körpereinsatz gespielte durchgeknallte Nellie LaRoy, die um jeden Preis Karriere in Hollywood machen möchte, freut sich über das Ableben der Konkurrentin. Nellie, die an Stummfilmstar Clara Bow angelehnt ist, darf nämlich ihre Rolle übernehmen. Doch bevor sie am nächsten Tag ihren Job antreten wird, verguckt sich der mexikanische Immigrant und ambitionierte Filmassistent Manny (Hollywood-Newcomer Diego Calva) beim gemeinsamen Koksen in sie, die lesbische Autorin und Sängerin Lady Fay Zhin, die an das It-Girl der Stummfilmära Anna May Wong erinnert, zieht alle mit ihrer Gesangsdarbietung von »My Girl’s Pussy« in den Bann, und der hedonistische Stummfilmstar Jack Conrad (Brad Pitt) beendet unbekümmert seine dritte Ehe und besäuft sich dann bis zur Besinnungslosigkeit. Dieser bodenlose Exzess wird von Kameramann Linus Sandgren mühelos auf 35 mm eingefangen, von Cutter Tom Cross auf ein halsbrecherisches Tempo hochgeschraubt und von Stammkomponist Justin Hurwitz mit fiebrigem Jazz unterlegt. So ist man heilfroh, als nach dieser schockierenden ersten halben Stunde endlich der Filmtitel erscheint und einem eine winzige Atempause gegönnt wird.
Doch schon geht der Wahnwitz weiter: Manny darf den stockbesoffenen Jack nach Hause kutschieren und begleitet ihn auch am nächsten Tag zu einem gigantischen Filmset, an dem mehrere Streifen auf einmal gedreht werden, Statisten bei Kriegsszenen schon mal ihr Leben lassen, Amphetamine gleichermaßen an Kinderstars wie an Erwachsene verteilt werden und Nellie beweisen kann, dass ein Star in ihr steckt. Ihre resolute Regisseurin – in den wilden Zwanzigern saßen tatsächlich noch erfreulich viele Frauen auf dem Regiestuhl – sieht das Potenzial der verführerischen Nellie, die in der Lage ist, in einer Nahaufnahme eine einzelne, herzergreifende Träne zu weinen. Pure Kinomagie und realer Albtraum des Filmemachens liegen eng beieinander, das ist die zentrale Aussage des deftigen Dramas, dessen subtilste Szene davon handelt, wie das fiktive Kinoscope-Filmteam zigmal versucht, eine einzige Szene mit brauchbarem Ton einzufangen und die gesamte Crew damit an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt. Köstlich. Alles andere als feinsinnig dagegen eine Sequenz, in der der zum Produzenten aufgestiegene Manny einem von Crystal Meth völlig entstellten Gangsterboss (Toby Maguire) mit absurden Filmideen in ein finsteres Labyrinth unterhalb von Los Angeles folgen muss, einem Krokodil und einem lebendige Ratten verzehrenden Mann inklusive. Dantes Inferno und David Lynch auf dem Bodensatz seiner Albträume lassen grüßen.
Der gefühlt Stunden dauernde, nächtliche Kampf der selbstzerstörerischen Nellie mit einer Schlange vor zugedröhnten Filmleuten und eine Szene, in der sie, deren Karriere mit dem Beginn der Tonfilm-Ära aus diesem Grund abrupt endet, snobistische Geldgeber vollkotzt, stehen dieser Szene allerdings nur um weniges nach. Im letzten Drittel des dreistündigen und mindestens eine halbe Stunde zu langen Dramas versucht Chazelle dann allmählich wieder einzulenken. So tröstet die Klatschreporterin Elinor St. John (Jean Smart) Stummfilmstar Jack in einem großartigen Monolog: Seine Zeit sei abgelaufen, doch dies sei eben das unabänderliche Wesen des Mediums: Stars kommen und gehen, er aber werde ewig auf Zelluloid weiterleben.
Gegen Ende folgt dann noch eine Montage aus unsterblichen Filmmomenten, um die grausame Hollywoodmaschinerie, die Menschen eine Weile benutzt, um sie dann wieder auszuspucken, erneut zu rechtfertigen: Kinobilder von Méliès, über Godard bis hin zu »Matrix« und »Avatar«, flimmern über die Leinwand. Ein Sprung ins Jahr 1952, als Manny sich im Kino »Singin’ in the Rain« ansieht, der ebenfalls – unvergleichlich harmloser – vom Ende der Stummfilmära handelt, soll die Zuschauer*innen offenbar mit dem zuvor Gesehenen versöhnen. Chazelles Rechnung geht definitiv erst einmal nicht auf. Zu erschöpft, überfordert, aber auch streckenweise angewidert und ausgespieen fühlt man sich von diesem 80 Millionen teuren, in den USA bislang gefloppten Wahnsinnsspektakel.
Allerdings muss man, wenn der Adrenalinpegel wieder gesunken ist, zugeben, dass man soeben einen der anarchistischsten und ehrlichsten Filme der letzten Jahre gesehen hat – und drei Stunden seiner Lebenszeit mit einer einen in ihren Bann ziehenden Margot Robbie und einem in Höchstform aufspielenden Brad Pitt, der als reale Leinwandlegende eine faszinierende Metaebene in den Film hineinzieht, zu verbringen, kann auch nicht so verkehrt sein. Auf jeden Fall hat Chazelle mit »Babylon« ein paar unvergessliche Bilder hinterlassen. Und das bringt uns zurück zu seiner Botschaft: Zumindest für Kino-Enthusiast*innen ist der Preis, den Einzelne für diese unsterblichen Momente zahlen, wohl tatsächlich nicht zu hoch.
„Rausch der Ekstase“ in nd von Jan. ’23