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Foto (c) 2017 Warner Bros. Ent.

Die Summe der Teile

Quälend lange hat es gedauert, bis die zwischen 2000 und 2006 verübten NSU-Morde an neun Migranten in Deutschland endlich aufgeklärt wurden. Bis 2011 schlossen die Ermittler einen rechtsextremen Hintergrund aus, suchten die Täter in der türkischen Gemeinde. Nun widmet sich Fatih Akin, Sohn türkischer Einwanderer, in seinem fiktiven Drama „Aus dem Nichts“ der viel zu wenig beachteten Opferperspektive: dem doppelten Leid, das den Hinterbliebenen durch die menschenverachtende Tat sowie die verschleppte Aufklärung durch den Staatsapparat zugefügt wurde. Doch leider gelingt es ihm und seinem Co-Autor Hark Bohm trotz ihrer mitreißenden Hauptdarstellerin Diane Kruger kaum, ihr arg durchschaubares Drehbuch zum Leben zu erwecken.

Der in Cannes uraufgeführte deutsche Oscarbeitrag beginnt mit einer wacklig eingefangenen Liebesheirat im Knast: Die schöne Studienabbrecherin Katja (Diane Kruger) heiratet den Ex-Haschisch-Verkäufer Nuri (Numan Acar). Acht Jahre später sind die beiden immer noch ein glückliches Paar. Nuri ist mittlerweile resozialisiert und betreibt ein Büro für Steuerberatungen und Übersetzungen im türkischen Viertel Hamburgs. Katja kümmert sich unterdessen um die Buchhaltung und ihren geliebten, gemeinsamen Sohn Rocco (Rafael Santana). Doch als sie eines Abends ihre Liebsten abholen will, muss sie erfahren, dass die beiden bei einem Nagelbombenattentat höchstwahrscheinlich ums Leben gekommen sind.

Kurz vor dem Anschlag hatte Katja vor dem Ladenlokal ihres Mannes noch eine junge Frau darauf hingewiesen, dass sie ihr neues Fahrrad samt Gepäckbox besser abschließen solle. Dies erzählt sie auch sofort dem Kommissar, der sie noch am selben Abend schonungslos befragt. Dennoch geht dieser erst einmal stur davon aus, dass die Täter in Nuris privatem Umfeld zu suchen sind.

Ihre Auszeichnung als beste Darstellerin erhielt Diane Kruger bei den Filmfestspielen von Cannes völlig zu Recht: Den unfassbaren Schmerz, der „aus dem Nichts“ über sie hereinbricht, spielt die 41-Jährige so schonungslos und glaubwürdig, dass man die meiste Leinwandzeit über mit ihr in einer Haut zu stecken meint. Umso bedauerlicher ist es, wenn man aus diesem tiefen Mitgefühl durch allzu funktionale Figurenzeichnung und konstruiert wirkende, bedeutungsschwere Handlungssegmente herausgerissen wird.

Nach der ersten Phase der Trauer, in der es platt metaphorisch immerzu regnet, sich Katja mit Drogen betäubt und sogar das Leben nehmen will, nimmt die junge Frau unterstützt von Anwalt Danilo (Denis Moschitto) den Kampf um Gerechtigkeit auf. In diesem schwächeren, TV-Gerichtsdrama-artigen zweiten Akt treten neben der Nazibraut Edda (Hanna Hilsdorf) und ihrem gleichgesinnten Ehemann André Möller (Ulrich Friederich Brandhoff) auf: ein karikaturhaft wirkender, ebenfalls von Naziideologie verseuchter Strafverteidiger, eine Pathologin, die ungerührt die diversen tödlichen Verletzungen der Mordopfer aufzählt, ein falscher griechischer Entlastungszeuge, der der rechtsradikalen griechischen Partei „Goldene Morgenröte“ angehört, sowie der von Ulrich Tukur gespielte Vater des Neonazibuben.

Wie die Sache vor Gericht ausgeht, lässt sich aufgrund des allzu schematischen Drehbuchs absehen. Überraschender gelingt hingegen der Schluss, der den Zuschauer durchaus mitreißen könnte. Tatsächlich fühlt man sich, nachdem der Vorhang gefallen ist, eher leer und durch eine allzu simple Dramaturgie manipuliert: Das Ganze ist eben doch nicht immer mehr als die Summe seiner Teile.

Stimme / Nov. 2017