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Die Hohepriesterin des Unglücklichseins

Miriam Böttgers Debütroman »Aus dem HAUS« bietet das Psychogramm von Soziallegasthenikern

Wenn man als Familie irgendwo erscheint, … dann ist man ein offenes Buch für die anderen.« Die Ich-Erzählerin in Miriam Böttgers tragikomischen Debütroman »Aus dem HAUS« macht keinen Hehl daraus, dass ihr die Rolle einer Tochter, die sich mit einer ständig jammernden Mutter herumplagen muss, aufgedrängt wurde. Ihre Mutter ist eine Frau, die glaubt, sie sei vom Pech verfolgt. Der Vater dagegen ist unfähig, seiner Frau etwas entgegenzusetzen, sie aufzumuntern und zu motivieren. Während sie die »Hohepriesterin des Unglücklichseins« gibt, verharrt er hilflos in der Position ihres »willigen Gehilfen«.

Die ZDF-Journalistin beschreibt durchaus amüsant, wie sich das ganze Unglück der Familie in einem 300 Quadratmeter großen – in ihrem Text stets in Versalien hervorgehobenem – HAUS manifestiert. Dieses HAUS lässt sich die Familie nach ihrem Umzug nach Kassel bauen. Die Ich-Erzählerin ist da 14 Jahre alt.

Zuvor, in Süddeutschland, war die Kleinfamilie noch halbwegs glücklich; die zur Theatralik neigende Mutter hatte dort wenigstens Freundinnen, die sie auffingen, wenn sie wieder einmal deprimiert war. Dann aber der arbeitsbedingte Umzug zurück nach Kassel, wo die Eltern aufgewachsen sind. Die Mutter fasst diesen mit den sarkastischen Worten zusammen: »Niemand ist freiwillig in Kassel … Nach Kassel wird man vom Schicksal geworfen oder man strandet hier, eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«

Die bissigen Beschreibungen der Einwohner*innen dieser Stadt in Hessen erinnern ein wenig an Thomas Bernhard, den die Autorin neben David Foster Wallace explizit als ihr großes Vorbild nennt. Die »Kasselaner«, die, wie man erfährt, in Kassel geboren sind, und die »Kasseläner«, die bereits in der zweiten Generation dort wohnen, definieren sich hauptsächlich über ihr möglichst protziges Auto. Sie können partout nicht verstehen, »dass ein Mensch, besonders ein Mann, ohne Not sein Leben als Fußgänger und Bus- und Straßenbahnnutzer verbringt«. Hier gelingt der Autorin ein höchst unterhaltsamer Einblick, nicht nur in die Befindlichkeiten und Mentalitäten der Kasselaner oder Kasseläner, sondern auch in die deutsche Volksseele. Das ständige Jammern über ein eigentlich recht sorgenfreies und selbst gewähltes »Schicksal« in Wohlstand und Sicherheit kommt bestimmt so manchem Leser und mancher Leserin bekannt vor.

Man klappt das Buch zu mit dem Gefühl, eine dysfunktionale Familie durchs Schlüsselloch beobachtet zu haben.

Eines Tages jedoch bekommen die Eltern – die Tochter ist längst ausgezogen und wohnt mittlerweile in Berlin – für das luxuriöse HAUS, das vermutlich für weite Teile der Weltbevölkerung das reine Glück bedeuten würde, überraschend ein Kaufangebot. Sie beschließen auszuziehen, sich zu verkleinern.

Nun verlagern sich die Luxusprobleme der Familie. Die Eltern sind unfähig, das Haus leer zu räumen – auf einmal erscheint ihnen das »Scheißhaus«, in dem sie so viele Jahre kreuzunglücklich waren, in einem anderen Licht. Nun jammert die Mutter gewohnt theatralisch über den Verlust der »Bruchbude«. Deren Talent, unglücklich zu sein, wird von der Tochter mit zunehmendem Befremden beobachtet. Es wird aber auch immer deutlicher, dass die Mutter an schweren Depressionen leidet.

Die Hintergrundgeschichte des verwahrlosten Nachkriegskinds, dessen überforderte Eltern das Einzelkind sehr viel allein gelassen haben, wird recht kühl wiedergegeben und kommentiert. Spätestens nach dem ersten Drittel des sich von Anekdote zu Anekdote hangelnden Roman beginnt man die ein oder andere mitfühlende Passage zu vermissen – zumal die namenlose Ich-Erzählerin, die sich als »routinierte Elternbefragerin« ausgibt, von sich selbst kaum etwas preisgibt.

Stattdessen lamentiert sie, sie habe das Gefühl von »diesen beiden Irren nur in die Welt gesetzt worden zu sein, weil sie einen Zuschauer brauchten, wenn ihnen Unrecht geschah, einen Zeugen, einen parteiischen Dritten, der auf ihrer Seite war, dem sie ihr Leid klagen konnten oder der sie beschützte«. Und wenn die Ich-Erzählerin mit ihrem gewohnt still vor sich hin leidenden Vater telefoniert, werden die Lageberichte des »Desinformationskünstlers, der Nebelkerzen warf«, immer kryptischer und beängstigender. Die Autorin liefert leider zu wenig Details über den dauerverstörten Vater; die Figur bleibt wie die Ich-Erzählerin blass.

Schließlich sieht sich die Tochter gezwungen, ihre am Umzug verzweifelnden Eltern doch noch einmal in Kassel aufzusuchen. Und doch fügen sich am Ende die bissigen Anekdoten über diese beiden unglücklichen Menschen, die ihre Eltern sind, nicht zu einem Ganzen zusammen. Man klappt das Buch zu mit dem Gefühl, heimlich eine Weile eine dysfunktionale Familie durch das Schlüsselloch beobachtet zu haben. Ohne großen Erkenntnisgewinn.

»Es ist, was es ist« – mit diesen Worten schließt der Roman. Wem das reicht, der wird an dem Psychogramm dieser »Soziallegastheniker« durchaus seine Freude haben.

Foto (c) Mark Garner

„Aus dem Haus“ in nd / Jan. ’25