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Man dankt

Der Schweizer Tobias Nölle zieht mit seinem sorgfältig gearbeiteten ersten Langfilm „Aloys“ in die Abgründe einer zutiefst vereinsamten Seele.

Die Seerobbe Farah vergisst stets, dass sie nicht mehr im Atlantik ist, und schwimmt mit voller Wucht und feuchtem Blick immer wieder gegen die Scheibe des Aquariums. Einst wurde die weiße Robbendame von Tierpflegerin Vera betreut, die nun nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus liegt. Aus dem Bett heraus verführt sie ihren mehr als kontaktscheuen Nachbarn, den titelgebenden Privatdetektiv „Aloys“, sich mit ihr via Telefon in eine Art Zwischenwelt zu begeben. Allmählich lernt das unfassbar einsame Vatersöhnchen aus seiner unmenschlichen Starre herauszukommen. Das Regiedebüt Tobias Nölles, das auf der diesjährigen Berlinale den renommierten FIPRESCI-Preis gewann, schwere Kost zu nennen, wäre noch gewaltig untertrieben. In dem exzentrischen und sorgfältig gearbeiteten Drama taucht man tief in die Wahrnehmungswelt eines depressiven Misanthropen ein.

Aloys Adorn, herausragend gespielt von Georg Friedrich („Wild“), fristet in einer tristen Schweizer Vorstadtsiedlung sein Dasein. Über den Tod seines Vaters, mit dem er eine Detektei betrieben hat, kommt er nicht hinweg. Er filmt seinen alten Herren noch auf dem Totenbett mit einem altmodischen Camcorder – und schaut sich diese Bilder, wie auch diejenigen, die er beruflich oder privat von seinen Mitmenschen macht, wieder und wieder an. Sie sind sein einziger, krankhafter Berührungspunkt mit dem wirklichen Leben, an dessen Fest er nicht teilnehmen möchte – denn: „Jedes Fest hört einmal auf, und zurück bleibt ein einsamer Mensch.“

Doch dann unterläuft dem aus der Bahn geworfenen Aloys, der nicht aufhören kann, von sich in der ersten Person Plural zu sprechen, ein schwerwiegender Fehler. Nach der Observation eines Pärchens, das ihn dabei erwischt, betrinkt er sich heillos und wacht morgens in einem abgestellten Linienbus auf. Zu seinem Entsetzen muss der wortkarge Sonderling feststellen, dass ihm seine letzten Videobänder gestohlen wurden. Kurz darauf ruft ihn die Diebin an. Es stellt sich heraus, dass es sich um seine Nachbarin Vera (Tilde von Overbeck) handelt. Sie erpresst und beschimpft Aloys, verwickelt ihn in ein unberechenbares Psychospiel, dessen Faszination er aber mehr und mehr erliegt.

Vera unterweist ihn in der Kunst des „Telefonwanderns“ – angeblich eine japanische Methode für extrem kontaktscheue Männer, sich wieder dem Leben zu öffnen. Sie leitet ihn an, sich in einen Wald zu imaginieren oder sich vorzustellen, er gebe eine Party für die wenigen Menschen, die er zwar ganz oberflächlich kennt, aber stets brüsk abgewiesen hat. Allmählich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Einbildung. Kameramann Simon Guy Fässler findet hierfür verstörend-surreale Bilder, und auch die ungewöhnliche Tonspur erzählt noch einmal ihre ganz eigene Geschichte.

Der Mann, der am liebsten unsichtbar sein möchte, ringt mit sich. Lieber als die echte Vera und seine Mitmenschen ist Aloys die Projektion von ihnen. So driftet er – und mit ihm der Zuschauer – immer weiter in ein Reich der Fantasie und des Wahnsinns ab. Oder ist es doch die Wirklichkeit? Werden die beiden hoffnungslos vereinsamten Menschen sich je real begegnen? „Vera, was ist los mit dir?“ fragt Aloys einmal. „Die Antwort passt nicht durchs Telefon“, erwidert sie mit betörender Stimme.

Warum ist man derart von diesem Mann fasziniert, der Abbilder von Menschen und deren Stimme am Telefon unbedingt realen Personen vorzieht? Hat das womöglich mit unserer eigenen zunehmenden Entfremdung von unseren Mitmenschen zu tun? „Man dankt“, wie Aloys zu sagen pflegt, für diesen schwer verdaulichen, noch lange nachhallenden Film.

Stimme / Nov. 2016