Foto (c) Ascot Elite Filmverleih
Bunte Lebensentwürfe
Reaktionärer Populismus ist wieder salonfähig geworden. Und mit ihm werden Stimmen laut, die ein Familienideal von vorgestern propagieren. Die Homo-Ehe – für manche stellt sie offenbar noch immer eine zivilisatorische Bedrohung dar. Von anderen Facetten der sexuellen Identität ganz zu schweigen. Auch wenn inzwischen selbst die Transgender-Thematik mit Filmen wie dem oscarnominierten Drama „The Danish Girl“ oder der Amazon-Serie „Transparent“ im Mainstream angekommen ist, braucht es in Zeiten wie diesen also noch mehr Werke, die Toleranz gegenüber den buntesten Lebensentwürfen zum Thema haben. Zum Beispiel das charmante Drama „Alle Farben des Lebens“ von Gaby Dellal.
„Jedes Jahr, wenn ich die Geburtstagskerzen ausblase, wünsche ich mir dasselbe“, erzählt Ramona, die nur noch Ray genannt werden möchte, zu Beginn des Films aus dem Off: „Ich wünschte, ich wäre ein Junge.“ Elle Fanning („The Neon Demon“) verkörpert beeindruckend dieses mittlerweile 16-jährige Mädchen, das schon ganz früh wusste, dass sie im Herzen ein Junge ist.
Glücklicherweise wächst Ray in einem recht verständnisvollen Zuhause mit drei Generationen unter einem Dach auf: Gemeinsam mit ihrer alleinerziehenden Mutter (Naomi Watts) bewohnt sie das Obergeschoss eines New Yorker Townhouses, eine Etage tiefer wohnt Großmutter Dolly (großartig: Oscarpreisträgerin Susan Sarandon) mit ihrer Lebensgefährtin Frances (Linda Emond).
Diese recht aufgeschlossenen Frauen, die sich in der liberalen Komfortzone eingerichtet haben, verunsichert Rays Wunsch nach einer geschlechtsangleichenden Therapie jedoch ähnlich wie jeden „Durchschnittsbürger“. Dolly, die übergriffige Matriarchin des Hauses, spricht ihre Zweifel auch immer wieder laut aus, was in der ersten, stärkeren Hälfte des Films für unverkrampft-erheiternde Töne sorgt: Nur weil sie lesbisch sei, bedeute dies nicht, dass sie auch tolerant sei, lässt sie einmal vom Stapel. Ein anderes Mal fragt sich Dolly laut, warum ihre Enkelin um Himmels willen nicht einfach eine ganz normale Lesbe werden könne.
Ray dagegen hat längst keine Zweifel mehr: Sie bindet sich die Brüste ab und trainiert hart, um muskulöser zu werden. In jeder Szene ist dem Zuschauer klar, worüber die unkonventionelle Familie noch heiß debattiert: Dieses Mädchen wurde eindeutig im falschen Körper geboren.
Auch Rays Mutter Maggie sieht nach anfänglichen Bedenken den Tatsachen mehr und mehr ins Auge. Doch es gilt noch ein Problem aus dem Weg zu räumen, bevor Ray sich einer Hormontherapie unterziehen darf: Da sie noch nicht volljährig ist, benötigt sie zusätzlich die Einverständniserklärung ihres biologischen Vaters (Tate Donovan), der die Familie schon lange verlassen hat und nur noch auf dem Papier existiert. Nun verlagert das Drama der britischen Regisseurin Gaby Dellal seinen Fokus: von Ray und ihren alltäglichen Problemen mit öffentlichen Toiletten, intoleranten Jungs und dem Mädchen, in das sie verliebt ist, mehr auf Maggies unbewältigte Vergangenheit mit ihrem Ex.
Darüber verliert der Film viel von seinem nonkonformistisch-komödiantischen Ton. Er löst sich letztlich in einem allzu märchenhaften Ende auf. Dennoch durchweht die heilsame Wirkung von Offenheit und Toleranz den 93-Minüter wie eine warme Brise. Spätestens wenn Rays kleine Halbschwester laut darüber nachdenkt, dass sie ja ziemlich Glück gehabt hat, als Mädchen in einem Mädchenkörper geboren zu sein, begreift man, wie harmonisch und erfüllend das Zusammenleben sein kann, wenn man einander einfach nur mit Akzeptanz und Respekt begegnet.
Weser Kurier / Dez. 2016