F

Foto: (c) Realfiction

Fremd im eigenen Leben

“Lena F. ist nicht hier”, sagt Lena F. (Maria Schrader) in einer Schlüsselszene des Dramas “Vergiss mein Ich”. Ihr verzweifelter Ehemann Tore (Johannes Krisch) verbietet daraufhin seiner Frau, die aufgrund einer Gehirnhautentzündung ihr biografisches Gedächtnis verloren hat, ihre eigenen alten Sachen wegzuwerfen: Dinge, die an ihr altes Ich gemahnen und ihr deshalb mehr und mehr zur Last werden. Was für spannende Fragestellungen liegen dem zweiten Langfilm von Regisseur und Autor Jan Schomburg (“Über uns das All”) zugrunde! Was geschieht mit jemandem, wenn man sich zwar noch daran erinnern kann, wer zurzeit Bundeskanzlerin ist, jedoch seine eigene Mutter, seinen Ehemann und seine Freunde plötzlich nicht mehr wiedererkennt? Wird die Person zu jemand völlig anderen? Woher kommen eigentlich Gefühle? Gibt es so etwas wie die Seele?

Als eine eher unnahbar wirkende Schauspielerin, die viel mit den Augen, den sogenannten “Toren zur Seele” ausdrückt, scheint Maria Schrader wie prädestiniert für die Rolle der Lena. In ihrem alten Leben war Lena eine hochintellektuelle Feministin, die ausgerechnet zu “performativen Widersprüchen” im Genderkontext geforscht hat. Wie sie nach der erschreckenden Diagnose verbissen mit einem Neurologen Woche für Woche daran arbeitet, Gefühlszustände anderer Menschen wieder interpretieren zu können, scheint viel mit der “alten Lena” zu tun zu haben. Fleißig studiert sie alte Videoaufnahmen, versucht, sich selbst nachzuahmen und liest beharrlich die Fachbücher, die sie einst selbst geschrieben hat.

Ihr Mann Tore unterstützt sie dabei, ja drängt sie sogar dazu, wieder so zu werden wie früher. Er verzweifelt mehr und mehr an den neu zutage tretenden Eigenschaften seiner Frau, die sich plötzlich gerne schrill kleidet und keine Höhenangst mehr hat. Als er zu begreifen beginnt, dass sich Lena nur noch spielen kann, indem sie auf ihren Ehemann mit auswendig gelernten Tagebucheinträgen reagiert, verengt sich der Film zu einem reinen Beziehungsdrama. Das hat es allerdings in sich! Denn die neue, von herkömmlichen Moralvorstellungen völlig losgelöste Lena kann nichts dabei finden, in einer geselligen Tischrunde über das heimliche Verhältnis ihres Mannes mit ihrer besten Freundin Frauke (Sandra Hüller) zu erzählen, von dem sie aus ihren alten Tagebucheinträgen weiß.

Ebenso hat Lena hat auch keine moralische Bedenken, sich auf sexuelle Entdeckungsreise mit ihrem Zufallsbekannten Roman (Ronald Zehrfeld) zu begeben, obwohl der ebenfalls gebundene Fremde Lena im Grunde genommen nur ausnutzt. Leider ist ausgerechnet die herrliche freizügige Szene mit Roman, bei der Lena endlich einmal ihrem neuen Ich folgt, zu dick aufgetragen. Die “neue Lena” wirkt darin streckenweise nur wie eine Karikatur ihrer selbst und ruft so unbeabsichtigte Lacher im Publikum hervor. So fällt es dem Zuschauer trotz klug eingesetzter, subjektiver Nahaufnahmen und dem ausdrucksstarken Spiel von Schrader insgesamt leider zu häufig schwer, mit Lena mitzufühlen.

Eine wunderbare Ausnahme ist eine vollkommen gelungene Szene, die sich auf der Dachterrasse eines Altenheims abspielt: Lena, die in ihrem alten Leben schon vor Jahren mit der Mutter gebrochen hat, will die alte Dame besuchen. Es entwickelt sich ein offenherzig-zärtliches Gespräch mit der runzligen Frau, die an Alzheimer leidet, am Schluss streicheln sich die beiden Frauen selbstvergessen die Hände. Als eine Krankenpflegerin Lena und somit den Zuschauer darüber aufklärt, dass die alte Frau gar nicht ihre Mutter ist, blitzt für einen Moment auf, was Schomburgs ambitionierte, streckenweise zu konstruiert wirkende Charakterstudie auch hätte sein können: eine subtile und facettenreiche Antwort auf die Frage, ob es etwas Größeres gibt als die eigene Identität mit ihren einengenden Rollenzuweisungen.

NWZ / Mai 2014