Foto: 2014 Sony Pictures Releasing GmbH
Zuflucht vor dem Sturm
Melancholiker-Legende Billy Murray demontiert in „St. Vincent“ nonchalant den eigenen Mythos …
Ein alter Griesgram freundet sich mit einem Kind an und findet dadurch ins Leben zurück: Natürlich meint man die Geschichte, die „St. Vincent“ erzählt, schon zig Male gesehen zu haben. Jedoch hat Regiedebütant Theodore Melfi diese altbewährte Rolle des grimmigen, alten Mannes dem mittlerweile 64-jährigen Parademelancholiker Bill Murray so dicht auf den Leib geschrieben, dass diese Tragikkomödie dennoch ihren ganz eigenen, teilweise verstörenden Ton hat: Der Mythos Murray demontiert in diesem Wohlfühlfilm nämlich ein wenig sich selbst, ganz ähnlich wie Clint Eastwood einst in der verblüffend ähnlichen Geschichte „Gran Torino“ sein Dirty-Harry-Image auf die Schippe nahm.
So ist man nach den ersten Szenen, in denen man Vincent kennenlernt, zunächst einmal zutiefst erschüttert: Der Zuschauer macht Bekanntschaft mit einem verbitterten Alkoholiker mit schütterem, grauen Haar, der in einer Bar schlechte Witze erzählt, in einem mehr als heruntergekommenen Haus in Brooklyn wohnt, jeden Dienstag mit der schwangeren russischen Hure Daka (mutig gegen den Strich besetzt: Naomi Watts) vögelt und äußerst unfreundlich zu seinen gerade einziehenden Nachbarn ist. Der witzige Melancholiker von nebenan, den Murray insbesondere in Wes Andersons Filmen immer darstellte, ist auf den Hund gekommen, schwer depressiv und eine Plage für die Menschheit.
Dabei sind sie doch ganz nett, seine neuen Nachbarn Maggie (Superkomikerin Melissa McCarthy in einer sehr zurückgenommenen Rolle) und ihr zwölfjähriger Adoptivsohn Oliver, der von Newcomer Jaeden Lieberher gespielt wird. Letzterer kann in diesem – ganz offensichtlich Bill Murray gewidmeten Film – erstaunlich gut mit dem Ausnahmeschauspieler gleichziehen. Wie das Leben in dem von der Wirtschaftskrise gebeutelten Amerika so spielt, freunden sich die beiden Außenseiter an – der schwächliche Sohn einer hart arbeitenden Alleinerziehenden und das menschenverachtende Großmaul. Dennoch versucht der von Wett- und anderen Schulden geplagte Vincent zunächst Gewinn aus seiner Beziehung zu Oliver zu ziehen, indem er sich seine Babysitter-Stunden von Maggie gut bezahlen lässt.
Das nun folgende kommt einem zwar einerseits alles bekannt vor: Wenn Vincent beispielsweise Oliver das Prügeln beibringt oder ihm zeigt, dass man beim Wetten und im Leben auch mal alles auf eine Karte setzen muss, denkt man unweigerlich an Filme wie „About a boy“. Andererseits besitzt dieses ungewöhnliche Paar einen so kratzig-besonderen Charme, dass man selbst eine recht kitschige Heiligengeschichte gern über sich ergehen lässt, um die beiden noch eine Weile miteinander agieren zu sehen. Oliver muss nämlich in seiner neuen katholischen Schule einen Aufsatz über „wahre Heilige“ schreiben. Dafür guckt der ebenfalls etwas verschrobene Junge, dem zum Teil leider etwas zu weise-erwachsene Sätze in den Mund gelegt werden, sich natürlich den mürrischen Vietnam-Veteran aus. Der hat nämlich, wie man erst ganz allmählich erfährt, ein paar abgrundtief verborgene gute Seiten.
So nimmt man wohlwollend einige pathostriefende Szenen in Kauf, um am Ende des Films mit dem mitsummenden Miesepeter Zuflucht vor den Stürmen des tristen Alltags zu suchen: Wenn Bill Murray „Shelter From The Storm“ von Bob Dylan vor seinem in die Jahre gekommenen Haus singt, kommt man sich hinreichend versöhnt vor mit den manipulativen Gesetzmäßigkeiten des Wohlfühlkinos.
Stimme / Dez, 2014