Kein Sommermärchen
Annegret Liepolds imländlichen Franken angesiedelter Roman „Unter Grund“ porträtiert eine junge Frau, die sich ihrer Vergangenheit in der rechten Szene stellt
Fußball-WM 2006: Jürgen Klinsmann und seine Mannschaft begeistern die Massen. Die Sonne lacht, jung und alt schmücken sich wieder mit der deutschen Nationalflagge, die bis dahin eher ein Schattendasein gefristet hat. Ein Gefühl von Gemeinschaft und nationaler Identifikation liegt in der Luft. Doch unter diesem scheinbar unschuldigen Heimatgefühl schlummern rechtsextreme Tendenzen, die wieder offener zu Tage treten.
An diesen Sommer, als sie 16 Jahre alt war, erinnert sich im Roman „Unter Grund“ von Annegret Liepold elf Jahre später die Protagonistin Franka, mittlerweile Lehramtsreferendarin in München. Sie besucht 2017 mit ihrer Klasse den NSU-Prozess. Als ein Schüler Beate Zschäpe eine „Nazischlampe“ nennt, wird Franka von unerträglichen Erinnerungen überrollt und verlässt fluchtartig das Gericht. Sie spürt, dass sie endlich ihr Schweigen brechen und sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen muss: Sie gehörte einst selbst der rechten Szene an.
Sie kehrt also in ihr fränkisches Heimatdorf zurück, denn nicht nur im Osten, der sonst immer im medialen Fokus steht, wenn es umRechtsextremismus geht, schlummern unter der Oberfläche nationalsozialistische Tendenzen. Diese unterschwellige Spannung spiegelt sich auch in Frankas geliebtem Himmelsweiher wieder, den ihre Oma ihremVater vermacht hat – und der für Franka immer untrennbar mit einem Gefühl von Heimat und Geborgenheit verbunden war. Um die Spiegelkarpfen zu fangen, die sich am Grund desWeihers tummeln, muss man ihn ablassen: eine kraftvolle Metapher für Frankas Versuch, die dunklen Schichten ihrer Vergangenheit bloßzulegen.
In ihrer Jugend war Franka also „selbst mal Teil dieser Nazischeiße“, eine schüchterne Außenseiterin, die sich auf dem Gymnasium schwertat. Ihr geliebter Vater war viel zu früh gestorben, ihre Mutter flüchtete sich in esoterische Positivität. Auch ihre kaltherzige und tyrannische Großmutter, von allen „die Fuchsin“ genannt, konnte ihr keine Geborgenheit schenken.
Eigentlich war Franka in Leon verliebt, einen engagierten Antifaschisten, dem die aufkommende „Schwarz-Rot-Geil“-Euphorie während des Sommermärchens unheimlich war. Doch als ihre Beziehung scheiterte, geriet sie in die Fänge von Patrick und Janna. Er ist Schichtarbeiter, sie Erzieherin – beide Neonazis, die die Leute satt haben, „die sich bis dreißig dummkiffen und dann auf Partys Reden schwingen, gegen die Ungerechtigkeit der Welt und den Kapitalismus“.
Sie veranstalten beim Dorfwirt, der beide Augen zudrückt, NPD-Treffen, schmettern auf Hauspartys voller Inbrunst das Horst-Wessel-Lied und die Böhsen Onkelz. Zudem sind sie Holocaustleugner und provozieren gern Personen mit Migrationshintergrund oder Linke, um einen Grund zu haben, sich mit ihnen zu prügeln. Von der selbstsicheren Janna ist Franka dennoch vom ersten Moment an fasziniert. Nicht, dass ihr das rechtsextreme Gedankengut besonders zusagt – die damals 16-Jährige sehnt sich einfach nach einem Gefühl der Zugehörigkeit.
Als Leser braucht man ein wenig Geduld, um die Geschichte hinter Frankas Geschichte zu verstehen: Das rechtsextreme Gedankengut, das unter der Oberfläche des Dorfes brodelt, die familiären Verstrickungen in der Nazizeit, über die nie geredet wurde, dasWegsehen der Mutter und der Tante, als Franka beginnt, in die rechtsextreme Szene abzurutschen. „Vielleicht hätte es schon geholfen, wenn du einfach irgendwie reagiert hättest“, wirft Franka ihrer Tante bei ihrer überstürzten Rückkehr in die Heimat vor. Diese hatte sie damals auf ein Internat geschickt, nachdem Franka in ihrer Schule mit rechtsextremen Äußerungen angeeckt war und mit ihren neuen Freunden einen jüdischen Friedhof verwüstet hatte.
Schicht um Schicht legt Annegret Liepold, die Politikwissenschaften und Komparatistik studiert hat, in ihrem Roman Frankas Geschichte frei und montiert dabei geschickt Rückblenden mit der erzählten Gegenwart. Franka erkennt, dass das Schweigen der Dorfbewohner tiefeWurzeln in der Vergangenheit hat. So wurde etwa das Haus, der „Fuchsbau“, in dem ihre Oma gelebt hat, einer jüdischen Familie, die 1938 fliehen musste, zu einem Spottpreis abgekauft. Einige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs verweigerte die Fuchsin jedoch jede Verantwortung, als Rückerstattungs- forderungen gestellt wurden – und kam damit durch.
Der 1990 in Nürnberg geborenen Liepold gelingt mit „Unter Grund“ ein literarisch wie politisch eindringliches Debüt. Es zeigt, dass Rechtsextremismus kein Randphänomen ist, sondern immer noch tief in Familiengeschichten, Gesellschaftsstrukturen und kollektiven Erinnerungen verankert ist. Ihre Protagonistin steht beispielhaft für viele junge Menschen, die auf der Suche nach Halt in rechtsextreme Umfelder geraten–und für den mühevollen, aber notwendigen Weg der Aufarbeitung.
Ohne reißerische Dramaturgie und ohne moralischen Zeigefinger erzählt Liepold von einem Deutschland, das sich seiner Verantwortung stellen muss, wenn es die Zukunft demokratisch gestalten will.
Foto (c) Daniela Pfeil
In: die Rheinpfalz von Juli 2025