Die letzten Erinnerungen an Lima
Klaudia Reynicke zeigt in ihrem Drama »Reinas« eine peruanische Familie kurz vor der Emigration in die USA
Heranwachsende brauchen Bewältigungsstrategien angesichts der vielen Krisenherde auf der Welt. In der Sektion Generation auf der Berlinale laufen stets viele filmischen Lichtblicke, die nicht nur altersgerecht aufzeigen, wie sehr die gesellschaftlichen Verhältnisse das Leben aller Kinder und Jugendlichen beeinflussen, sondern auch wie man realistisch damit umgehen kann. Leider schaffen diese großartigen Kinderfilme viel zu selten den Weg in die Kinos. Klaudia Reynickes »Reinas« ist so ein Film, dem dieses Schicksal glücklicherweise erspart blieb.
Ihre komplexe Coming-of-Age-Geschichte spielt während der politischen Unruhen in Peru in den frühen 90ern: Das Land wird von Faschisten regiert und die aufständische Gruppe »Leuchtender Pfad« verübt immer wieder Terroranschläge. Nächtliche Ausgangssperren sind die Folge, die Inflation steigt und die Wirtschaft schwächelt.
Die Regisseurin ist selbst in Lima geboren und aufgewachsen, bevor sie mit ihrer Familie auswanderte und in der Schweiz sowie den USA lebte. In ihrem Film konzentriert sie sich auf die Entwicklung der ganzen Familie – und nicht wie sonst im Coming-of-Age-Genre üblich, lediglich auf die ihrer kindlichen Protagonist*innen. Sie zeigt, wie alle Familienmitglieder – allen voran ein kindsköpfiger Vater – unter diesen schwierigen Umständen eine spannende Entwicklung durchmachen. Zu Recht erhielt Reynicke deshalb auf der diesjährigen Berlinale den Großen Preis der Jury in der Sektion Generation Kplus – der Film wird außerdem 2025 bei der Oscarverleihung 2025 in der Kategorie Bester internationaler Film die Schweiz vertreten.
Die zehnjährige Aurora und Lucía, die gerade 15 geworden ist, wachsen in Lima zwar in recht privilegierten Verhältnissen auf, dennoch bekommt auch ihre Familie die Folgen der politischen Lage immer mehr zu spüren. Ständige Stromausfälle, die strikten Ausgangssperren, Protestmärsche und Nachrichten über Anschläge im Radio trüben immer wieder die Lebensfreude der Menschen und erzeugen eine diffuse Stimmung der Angst, die sich wie ein lähmender Schleier über das Land legt.
Die Mutter der beiden hat sich deshalb entschlossen, in die USA auszuwandern, einen Job hat sie bereits in Aussicht, es fehlt nur noch die Unterschrift des Vaters unter der Ausreisegenehmigung. Doch Carlos (Gonzalo Molina), von dem Elena (Jimena Lindo) sich vor langer Zeit getrennt hat, ist ein unzuverlässiger Mann und notorischer Lügner. Eigentlich schlägt er sich mehr schlecht als recht als Taxifahrer und Sicherheitskraft durch, behauptet aber je nach Stimmung, Schauspieler, Krokodiljäger oder sogar Geheimagent zu sein. Elenas Mutter, die von der Almodovar-Veteranin Susi Sánchez verkörpert wird, verabscheut »El Loco« – den Verrückten, der zudem bettelarm ist.
Aurora und Lucía wachsen in Lima in privilegierten Verhältnissen auf, dennoch bekommt auch ihre Familie die Folgen der politischen Lage immer mehr zu spüren.
Dennoch ermutigt Elena ihren Ex-Mann, die drei Wochen vor ihrer Abreise mit seinen entfremdeten Töchtern zu verbringen. Reinas – Königinnen – nennt er die Töchter. Und sie verhalten sich anfangs äußerst skeptisch gegenüber ihrem Vater, der sich jahrelang nicht um sie gekümmert hat.
Doch es ist Sommer und den Mädchen ist langweilig, deshalb lassen sie sich darauf ein, von ihrem Vater in seiner Schrottkarre mit zum Strand genommen zu werden. Seine Lügengeschichten nerven und amüsieren sie gleichzeitig, aber immerhin überredet Carlos einen Straßenhändler, einen alten Autoreifen gegen Badeanzüge für seine Töchter zu tauschen. Einmal überzeugt er sogar einen Bekannten, ihm seinen Geländewagen zu leihen, damit er mit seinen »Königinnen« eine halsbrecherische Fahrt über die Dünen veranstalten kann. Nach und nach fassen die Schwestern Vertrauen zu dem lebensfrohen Überlebenskünstler, dem anscheinend doch was an ihnen liegt. Wie er zu diesem mit allen Wassern gewaschenen Lügenbaron geworden ist, bleibt der Fantasie überlassen.
Man spürt, verstärkt durch die wie ausgeblichen wirkende Farbpalette, wie Carlos verzweifelt bemüht ist, seinen Töchtern noch ein paar schöne Erinnerungen an ihn mitzugeben. Zunehmend fragt er sich aber, ob er sie überhaupt ziehen lassen soll – auch seinen Töchtern kommen Zweifel. Mehr als einmal schwänzt Carlos den Notartermin, bei dem er die Reisepapiere unterschreiben müsste.
Der Film wechselt geschickt zwischen den Perspektiven der Schwestern – die trotz ihres Altersunterschieds ein inniges Verhältnis miteinander haben – und ihrem Vater. Aber auch die Mutter macht eine wichtige Entwicklung durch. Die chaotische Lage im Land, die hauptsächlich durch die Augen ihrer jungen Protagonistinnen gezeigt wird, beeinflusst jeden einzelnen von ihnen und ihre Familiendynamik.
Dabei kann sich die Regisseurin, die ein feines Gespür für Schauspieler*innenführung zeigt, voll auf ihr großartiges Ensemble verlassen, besonders auf Luana Vega und Abril Gjurinovic, die die Schwestern verkörpern, sowie auf Molina als Carlos.
Indem die Eltern und ihre Töchter in diesem subtilen Drama die harte Realität anerkennen, rücken sie als Familie näher zusammen.
Foto (c) Diego Romero Suárez-Llanos/Alva Film