Wovon träumt die KI?
Der neue Roman von Richard Powers führt auf eine ganz besondere Insel
„Das große Spiel“von Richard Powers, führt auf eine Pazifik-Insel, auf der sich die Schicksale von vier Menschen kreuzen: Meeresforscherin Evelyn Beaulieu, Künstlerin Ina Aorta, Vielleser Rafi Young und Computervisionär Todd Keane. Richard Powers hat selbst Physik studiert, bevor er auf Literaturwissenschaften umschwenkte und als Programmierer arbeitete – und schließlich als Schriftsteller erfolgreich wurde. 2019 gewann er mit seinem Öko-Roman „Die Wurzeln des Lebens“ den Pulitzer-Preis.
In einem Handlungsstrang erzählt Powers, wie Evelyn von ihrem unverantwortlichen Vater, der eine Aqualunge testen wollte, mit den Worten „Du brauchst nur zu atmen“ ins Wasser geworfen wird. Dieses Trauma hat sie erstaunlicherweise gut verwunden, es war für sie sogar ein Erweckungserlebnis. Fortan widmet sie ihr Leben der Erforschung und dem Schutz der Ozeane. Immer wieder taucht Evelyn, die an die Ozeanographin Sylvia Earle angelehnt ist, um das Leben, die Spiele und die Sprache der Meeresbewohner zu studieren – diese Passagen gehören zu den großartigsten des Romans. So beschreibt Powers, der als Kind ebenfalls Meereskundler werden wollte beispielsweise, wie Evelyn einmal einen Manta-Rochen, der sich in ein Netz verheddert hat und sie stumm um Hilfe bittet, daraus befreit.
Es ist, als befände man sich selbst auf Tauchstation mit Evelyn und allein für diese großartigen Passagen lohnt sich die Lektüre des Romans. Leider ist jedoch Powers Figurenzeichnung und die Plausibilität der Geschichte letztlich weniger gelungen.
Evelyns Leben ist lose mit dem von Todd Keane verbunden. Als Kind hat er einst ihr Buch verschlungen und ebenfalls seine Liebe zum Meer entdeckt. Jedoch widmet er sein Leben letztlich der Informatik und steigt zum steinreichen Technikmogul auf – einer Mischung aus Steve Jobs, Mark Zuckerberg und Bill Gates. „Das Zeitalter der Menschen ging zu Ende, ich half dabei, die nächste große Lebensform zu entwickeln“, erzählt er. Gegen Ende sinniert er, dass wir „für den Rest der Menschheitsgeschichte…damit beschäftigt sein werden“ die KI „irgendwie zu bändigen.“
Todd, der mit 57 Jahren an Lewy-Körper-Demenz erkrankt, erzählt einem mysteriösen Du – dessen Identität erst gegen Ende des Romans aufgeklärt wird – wie er einst im College Rafi Young traf. Der hochintelligente Junge aus einem ärmlichen Viertel Chicagos wurde vom Vater von klein auf zum Lesen gezwungen, damit er als Schwarzer im Spiel des Lebens mithalten kann. Psychologisch fragwürdig erwächst daraus bei Rafi jedoch eine große Liebe zur Literatur.
Viele Stunden verbringen die hochbegabten Teenager Todd und Rafi damit, Schach und später das hochkomplexe Brettspiel Go zu spielen. Während die Erfahrungen dieser Zeit später in die Entwicklung von Todds digitalem Welterfolg „Playground“ münden, bleibt Rafi letztlich ein Literatur-Nerd, der so gerade über die Runden kommt.
Im Ansatz sind das zwei hochspannende Charaktere, leider will Powers aber zu viel erzählen. Komplexe und überaus lesenswerte Gedanken über die großen Themen unserer Zeit von KI über Rassismus, Klimawandel, Feminismus, soziale Netzwerke und Postkolonialismus lassen die Figuren streckenweise leider zu Pappkameraden verblassen.
So endet die Freundschaft zwischen den beiden Hochbegabten abrupt und für den Leser nicht ganz nachvollziehbar, als Todd Rafis Freundin Ina einmal wegen des Verhaltens ihres Liebsten zu trösten versucht. Ina wiederum, eine tahitianische Künstlerin zieht sich scheinbar mit Rafi und ihren beiden Adoptivkindern auf die Insel Makatea zurück, die sich mittlerweile einigermaßen vom rücksichtslosen Phosphatabbau in den 1960er Jahren erholt hat. Deren verbliebene 82 Bewohner führen ein naturverbundenes Leben. Doch durch ein verlockendes Angebot Todds, vor dem Atoll im Südpazifik autarke schwimmende Städte zu errichten, könnte diese Idylle wieder zerstört werden. Einige Bewohner sehnen sich nach Fortschritt, andere nicht. Eine Abstimmung wird anberaumt.
Letztlich laufen alle Handlungsstränge auf Makatea in einer von einer KI ersonnenen „Gutenachtgeschichte“ zusammen. Träumt die KI von einem versöhnlicheren Ende für die Menschen?, fragt man sich nach der Lektüre dieses vielschichtigen Romans. Auch eine überaus spannende Frage.
Foto (c) S. Fischer Verlag
Richard Powers/“Das große Spiel“ in Rheinpfalz von Okt. 2024