Die Furcht vor dem Schmerz
In „Zeit der Verluste“ denkt Daniel Schreiber über persönliche und gesellschaftliche Verluste nach
Ein neues Buch von Daniel Schreiber ist wie ein Brief, der lange überfällig war. Und zwar vom kollektiven Unterbewussten an alle, die ihren unbestimmten Gefühlen auf den Grund gehen wollen.
In seinem Buch „Nüchtern“ (2014) beleuchtete der heute 46-jährige Journalist und Kunstkritiker sein eigenes Alkoholproblem als ein kollektives. In seinem sehr persönlichen Essay „Zuhause“ (2017) widmet er sich der Frage wo wir hingehören und erzählte dabei auch von seiner schwierigen Kindheit in einem mecklenburgischem Dorf, als er merkte, dass er schwul ist. In der Pandemie entstand „Allein“, in dem er 2021 seine Gedanken über Einsamkeit, Liebe, Freundschaft und Selbstfürsorge versammelte.
Nun also „Die Zeit der Verluste“. Ausgehend von seiner eigenen Unfähigkeit, nach dem Tod seines Vaters zu trauern, sinniert Schreiber während eines Stipendienaufenthalts in Venedig über das Gefühl des Verlusts – sowohl persönlich als auch politisch. Seine autobiografisch grundierte Analyse erinnert an Autor*innen wie Annie Ernaux, Didier Eribon und Joan Didion.
„Ich habe das Gefühl, dass sich sein Tod in eine Vielzahl von kleinen und großen Tragödien einreiht, dass sich mein privater Verlust mit den vielen kollektiven Verlusten vermengt“, schreibt er, „manchmal bin ich mir nicht sicher, um wen oder um was ich trauere, ob ich das vermeintlich kleine und das vermeintlich große, meinen privaten Alltag und die Weltgeschichte, noch trennen kann.“
Berührend sind die Passagen, in denen der moderne Flaneur von seinem bodenständigen Vater erzählt, dessen Familie aus Wolhynien und Schlesien flüchten musste. So lange wie möglich wollte dieser rücksichtsvolle Mann seine Kinder vor der Tatsache verschonen, dass seine Krebsdiagnose tödlich ist. Dabei war er bereit zu sterben.
Der ausdrückliche Wunsch seines Vaters sich anonym bestatten zu lassen, stößt bei Schreiber auf Unwohlsein – jenseits von bürgerlichen und christlichen Traditionen. Auf der Friedhofsinsel San Michel, angesichts pompöser Gräber, kommt er zu dem Schluss, dass dieser selbstgenügsame Mensch, der so viel geleistet hat, es einfach gewohnt ist, sich nicht viel Raum zu nehmen. Er hat Angst, dass seine Eltern „das gesellschaftliche Bild von der Betrauerbarkeit ihrer Leben verinnerlicht haben, das Bild einer Mehrheitsgesellschaft, die dem Leben von Menschen ihrer Herkunft und persönlichen Geschichte…weniger Wert beimisst.“ Die Mutter unterstützt den letzten Willen ihres Ehemanns und einmal mehr bewundert man Schreiber Gabe, schwer fassbare Gefühle in Worte auszudrücken.
Vor dem Zusammenbruch der DDR arbeitete sein Vater in einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in Mecklenburg-Vorpommern. Ein von schwerer körperlicher Arbeit gezeichnete Mann, der bis zum ende seines Lebens ein überzeugter Sozialist blieb, trotz „des Wissens, wieviel im real existierenden Sozialismus im Argen lag“. Die Gesamtausgaben von Lenin und von Marx und Engels behielten weiterhin ihren angestammten Platz im Bücherschrank, einzelne Sätze waren in diesen Bänden sorgfältig mit dem Lineal unterstrichen.
Durch den Verlust des geliebten Elternteils wird Schreiber die allgemeine Verunsicherungen der Gesellschaft bewusster. „Spätestens seit den Ereignissen der Pandemie und des mit atomaren Drohungen einhergehenden russischen Feldzugs in der Ukraine hatten viele von uns realisiert, dass eine zuletzt fragiler werdende, doch immer noch greifbare Ära der Stabilität vorbei war.“ Doch wie sollen wir mit einer „schwindenden Aussicht auf eine freundliche Zukunft“, diesen apokalyptischen Szenarien, bloß umgehen?
Schreiber wagt es all diese Verlusterfahrungen zusammen zu denken. Schließlich sei es der Schmerz vor dem wir uns am meisten fürchten. Dabei ist Trauerarbeit wichtig, um wieder Zuversicht zu schöpfen. Der Autor macht Mut sich die Zeit zu nehmen, die unwiderruflichen Verluste angemessen zu betrauern. Dabei greift er auch auf Denkansätze zahlreiche Autor*innen von Sigmund Freud über Simone de Beauvoir bis Roland Barthes zurück. Wer sich gegen die Unbeständigkeit und den Dauerkrisenmodus unserer Zeit rüsten möchte, dem sei dieses überaus tröstliche Essaybändchen wärmstens ans Herz gelegt.
In nd von Feb. 2024