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Aus dem Schatten ins Licht

Mieko Kawakami spürt in „All die Liebenden der Nacht“ einer einsamen Heldin nach 

Denkt man an Japan, fallen einem zunächst so einige Klischees ein: Geishas, Sumoringer, Samurai, die außerordentliche Höflichkeit der Japaner, Mangas, High-Tech-Affinität – kurzum: Man glaubt, dass es sich um ein wohlhabendes Land handelt, dem es gelungen ist, kulturelle Gegensätze, Tradition und Moderne kunstvoll miteinander zu vereinen. Dass in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt in etwa jeder sechste in Armut lebt, ist dagegen nicht allzu bekannt. 

Eine der wenigen japanischen Autoren, die mitreißend und respektvoll über diese Menschen auf der Schattenseite ihres Landes schreiben, ist die mittlerweile 47-jährige Mieko Kawakami, die mit ihrem Roman mit dem provozierenden Titel „Brüste und Eier“ 2019 auch hierzulande großen Anklang fand. Darin erzählt sie von zwei in Armut aufgewachsenen Schwestern, und verhandelt das patriarchale Rollenbild, das in Japan immer noch mehr als allgegenwärtig ist. Die Autorin weiß, wovon sie schreibt, wuchs sie doch selbst in Armut auf und begann als Teenager bereits in einer Fabrik und später als Hostess zu arbeiten, um ihre alleinerziehende Mutter zu unterstützen.

2021 wurde dann in Deutschland endlich auch Kawakamis bereits zwölf Jahre alter Roman „Heaven“ veröffentlicht, der sich – neben der in all ihren Romanen präsenten, sozialen Komponente – um gnadenloses Mobbing in der Schule dreht. In diesem Jahr nun ist ihr dritter Roman „All die Liebenden der Nacht“ bei uns erschienen, den sie bereits 2013 schrieb.

Wieder ziehen den Leser bereits die ersten Sätze ihres Romans unwillkürlich in ihren Bann: „Ich frage mich, warum es nachts so schön ist. Weil die Welt nachts nur zur Hälfte existiert, sagte Herr Mitsutsuka einmal…Im Dunkeln strengt der Rest der Welt sich doppelt an, deshalb ist das Nachtlicht so schön.“ 

Wer sich das fragt, ist die schüchterne 34-jährige, Ich-Erzählerin Fuyuko Irië, die allein in einem Appartement in der Millionenstadt Tokio lebt und als Korrekturleserin arbeitet. Der Job scheint wie für sie gemacht, denn „was man beim Korrekturlesen als erstes lernt, ist das man dem Geschriebenen inhaltlich nicht folgen darf.“ Auch in ihrem Leben hat sie eine erschreckende Meisterschaft darin entwickelt, sich selbst nicht zu spüren und keiner eigenen Geschichte zu folgen. Sie hört keine Musik, liest nicht – „wenigstens nicht zum Spaß“ und hat keine Freunde. 

„Die kennt nichts als Arbeit…die hat kein Leben“, lästern die Kollegen hinter ihrem Rücken. Fuyuko muss ihnen insgeheim recht geben, hat sie doch „nie gewusst, was Leben ist.“ Nur an ihrem Geburtstag, der auf Heiligabend fällt, geht sie seit einigen Jahren, aus einem Impuls heraus, nachts regelmäßig spazieren: „Die Lichter der Nacht feiern meinen Geburtstag“ – so kommt es ihr vor. Und ganz allmählich geraten auch andere Dinge in ihrem Leben in Bewegung. Sie schließt zaghaft Freundschaft mit einer gleichaltrigen Korrekturleserin, der scharfsinnigen und selbstbestimmten HijiriIshikawa, die „eine Aura besaß, als steckte sie in einem Rahmen, als würde sie von einem Spotlight beleuchtet.“

Fuyuko folgt deren Rat, sich selbständig zu machen. Durch sie lernt Fuyuko, die bislang nie etwas getrunken hat, auch die kurzfristige Erleichterung eines Rauschs kennen. Eines Nachmittags, nach einer Blutspende zu der sie sich hat breitschlagen lassen, betrachtet Fuyuko sich dort ausgiebig im Spiegel und erblickt darin eine „erbärmliche Frau“. Aus Frust über ihre Einsamkeit und Verlorenheit, beginnt sie nun regelmäßig zu trinken, um nicht „nicht mehr ich zu sein“. Ihre Trinkverhalten nimmt jedoch rasch bedenkliche Züge an, ohne eine Thermoskanne mit Sake geht sie schon bald nicht mehr aus dem Haus.

Dann lernt sie einen ein wenig surreal wirkenden Physiklehrer, Herrn Mitsuka kennen. Er verurteilt sie nicht, sondern hört ihr von Anfang an zu. Nach einer Weile trifft sie sich regelmäßig mit dem über zwanzig Jahre älteren Mann. Ihm gegenüber kann sich Fuyuko, die ein traumatisches, sexuelles Erlebnis mit sich herumschleppt, ihre Einsamkeit und Verlorenheit in der Welt eingestehen. Ihre ausführlichen, von Gesprächspausen durchzogenen Gespräche über das Phänomen des Lichts sind wunderbar poetisch und lakonisch. Als wäre Kawakami eine Tochter Haruki Murakamis, von der er lernen könnte, wie man komplexe Frauenfiguren entwickelt und eine Story schlüssig und furios zu Ende bringt. Gebannt und zutiefst berührt folgt man dem einsamen Millenial, der sich langsam und vorsichtig wie eine übervorsichtige Auster öffnet, um am Ende den Schatz der eigenen Persönlichkeit zu heben.

Foto: Charly TRIBALLEAU / AFP © AFP

In: Die Rheinpfalz /Sept. 2023