Bonusfilm über Annie Ernaux
Die Doku ist das Bonusmaterial zu den autobiografischen Büchern der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux
Die 82-jährige Annie Ernaux wurde in diesem Jahr von der schwedischen Akademie „für ihren Mut und klinischen Scharfblick“ ausgezeichnet. Attribute, die durchaus auch in diesem Dokumentarfilm zum Tragen kommen, den sie mit ihrem ältesten Sohn David Ernaux-Briot verwirklichte.
Die ursprüngliche Idee zum Zusammenschnitt aus den Super-8-Filmen der Familie Ernaux kam David, als sein Sohn den Wunsch äußerte, den verstorbenen Großvater zu sehen. Der Opa ist jedoch letztlich kaum zu entdecken, denn als Davids Eltern frisch vermählt im Winter 1972 die heißersehnte Kamera erwerben, überläßt Annie Ernaux ihrem damaligen Ehemann die Macher-Rolle „vielleicht aufgrund einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die zu Beginn unseres gemeinsamen Lebens bestand“, wie sie die Bilder per Voice Over in der ihr eigenen, trockenen Art kommentiert.
Damit gibt Ehemann Philippe, der durchaus ein passabler Filmer ist, die Perspektive vor: Beispielsweise nimmt er seine junge Gattin auf, wie sie mit den Söhnen nach Hause kommt. Alltägliches. „Aus dem Leben gerissene Momente“ unter denen die Autorin im Rückblick jedoch „eine andere Realität wahrnimmt“.
Aber auch die auf körniges Super-8-Material gebannten Reisen des Ehepaars, die exemplarisch für die nicht kommunistischen Linken Frankreichs dieser Zeit gelten können, werden von der literarisch geübten Ethnologin ihrer selbst schonungslos kommentiert. Die Ernaux reisen nach Chile, um das Land des bewunderten Präsidenten Allende zu sehen, nach Albanien unter dem stalinistischen Diktator Hoxha, und nach Marokko.
In den drei Wochen des Müßiggangs dort, in denen ihr Sohn schwimmen lernt, denkt Annie Ernaux beständig an das fertige Manuskript in ihrer Schublade. Weder ihrem Mann, noch ihrer Mutter, die bei ihnen wohnt, hatte sie verraten, dass sie an einem Buch schreibt, in dem sie analysiert wie Bildung und Kultur sie getrennt haben von der Arbeiterwelt ihrer Geburt. Darüber möchte sie schreibend hinauswachsen: ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse und die Ankunft in der Bourgeoisie.
Als die Familie 1981 zerbricht, nimmt der Mann die Kamera mit, um sie in seinem neuen Leben zu verwenden, die Bilder aus der Vergangenheit lässt er zurück…Gern hätte man mehr darüber erfahren, wie es zum Bruch kam, und oben es für Annie Ernaux unmöglich war gleichzeitig die Rolle als Mutter, Ehefrau und Lehrerin auszufüllen – und noch dazu, die der heimlicher Schriftstellerin.
Foto (c) Film Kino Text (Filmagentinnen)
In Kölner Stadtrevue: Dez. 2022