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Lehrreiche Wochen
Ein pummeliger Junge und wie er die Welt sieht: „Measure of a Man – Ein fetter Sommer“ steht in der Tradition von sonnendurchfluteten Filmen voller Teenager-Sehnsüchte und Unsicherheiten.
„Die Größe eines Mannes lässt sich daran erkennen, dass er zu einem sicheren Hafen finden kann – sogar im größten Sturm.“ Diesen Schlüsselsatz sagt der weise alte Mentor Dr. Kahn (Donald Sutherland) einmal zu dem übergewichtigen 14-jährigen Bobby (Blake Cooper, „Maze Runner“). Doch bevor die wegweisenden Worte im Leben des unsicheren Jungen mit den wilden Locken, dem scharfen Humor und der beachtlichen Leibesfülle fallen, lässt sich der Sommeraufenthalt am Rumson Lake in Upstate New York nicht gut für ihn an: Während andere ihre perfekten Körper am Strand vorführen, versteckt Bobby sich in überweiten Pullovern. Und „Measure of a Man – Ein fetter Sommer“ hält noch mehr parat für den pummeligen Jungen.
Bobbys langjährige Sommerfreundin Joanie (Danielle Rose Russell) wird die meiste Zeit der Ferien bei ihren Eltern verbringen, nicht bei ihm. Und Bobby Eltern, die offenbar kurz vor der Scheidung stehen, sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie sich um ihren komplexbeladenen Sohn kümmern könnten. Bobbys ältere Schwester Michelle (Liana Liberato) bändelt obendrein noch mit dem überaus attraktiven Pete (Luke Benward) an, der all das verkörpert, was Bobby nicht ist. Außerdem zwingt sie Bobby, der mit unverdientem Groll gegenüber dem zwar athletischen, aber immer freundlichen Pete zu kämpfen hat, ihre amourösen Ausflüge zu decken. Am schlimmsten aber ist für Bobby, dass drei Einheimische ihn schikanieren, wo sie nur können. Vor allem, als Bobby einem von ihnen unabsichtlich seinen Sommerjob vor der Nase wegschnappt.
Ein weiser Mentor tritt auf
Aus dem Off kommentiert Bobby mit trockenem Humor die Geschehnisse, die auf dem mehrfach ausgezeichneten Jugendroman „One Fat Summer“ von Robert Lipsyte beruhen. Drehbuchautor David Scearce hat die Handlung aus den 50-ern in den Sommer 1976 verlegt; Soft-Rock von Donovan über America bis hin zu The Marmalade untermauern das Zeitgefühl dieser Ära.
Auf Anraten von Joanie besorgt sich Bobby einen Job, um die Sommerferien irgendwie zu überstehen. Der vornehme und fordernde Witwer Dr. Kahn stellt ihn ein, damit er sich um das riesige Grundstück seines Ferienhauses kümmert. Kahn erkennt sofort die Defizite des molligen Jungen mit dem unterirdischen Selbstbewusstsein und beschließt, ihn unter seine Fittiche zu nehmen. Diese Gespräche zwischen Bobby und Dr. Kahn sind Dreh- und Angelpunkt des Films von Regisseur Jim Loach.
Der britische Filmemacher und Sohn von Regie-Legende Ken Loach hat sich sichtlich an sommerlichen Coming-of-Age-Filmen wie „Stand By Me“ und „Call Me By Your Name“ geschult. Gekonnt fängt er in sonnendurchfluteten Bildern das Lebensgefühl der 70-er ein, und sein junger Hauptdarsteller ist eine wahre Schau: Blake Cooper spielt sich durch seine subtile Darstellung in die Herzen seines Publikums, ohne um die Gunst des Zuschauers zu buhlen.
Einige Ratschläge von Dr. Kahn, der sich mit Schikane bestens auskennt, schrammen allerdings nur sehr knapp an Plattitüden vorbei. Schade auch, dass Donald Sutherland seine Rolle ein wenig zu routiniert abspult – die Beziehung zwischen dem alten Mann und dem dicken Jungen berührt einen nur wenig. Die Botschaft, die „Measure of a Man – Ein fetter Sommer“ vermittelt, ist aber zeitlos klug: dass man lernen muss, für sich selbst einzustehen und Verantwortung für seine Entscheidungen zu übernehmen.
Mittelbayerische / Juni 2019