Foto (c) Salzgeber
Keine große Kunst
„Mit dem Sex komme ich klar, aber die Kunst macht mich fertig“, sagt der Neue auf dem Edelstrich in Steve McLeans queerem Coming-of-Age-Drama „Postcards from London“ zu seinen jungen Kollegen. Kein Wunder, leidet der bildschöne Junge aus der Provinz doch an dem sogenannten Stendhal-Syndrom, das ihn beim Anblick künstlerischer Meisterwerke in Ohnmacht fallen lässt. Beinahe ein Vierteljahrhundert nach McLeans ästhetisch ungewöhnlichem Spielfilm „Postcards from America“, der sich an den Werken des früh an Aids verstorbenen Schriftstellers und Schwulenaktivisten David Wojnarowicz orientierte, schickt er dem Zuschauer abermals kinematografische Postkarten aus der queeren Subkultur. Dieses Mal aus dem im Neonlicht strahlenden Rotlichtviertel Soho, das als hochartifizielle, theaterhafte Kulisse auf einer Klangbühne errichtet wurde.
Den blendend aussehenden Jim (Harris Dickinson in einer leider viel zu flach angelegten Rolle) verschlägt es aus der Provinz nach London. Die in einem Rückblick gezeigte, von McLean und seiner Kamerafrau Annika Summerson radikal auf das Wesentliche reduzierte Szene, in der er seinen Eltern erklärt, dass es ihn nach London zieht, gehört zu den faszinierendsten, die der Film zu bieten hat.
Der sensible, junge Mann sucht in Soho nach einer „Welt voller Geheimnisse und Möglichkeiten“. Doch schon bald wird der naive 18-Jährige ausgeraubt. Glücklicherweise nehmen sich kurz darauf die „Raconteurs“, eine Gruppe von Callboys, die sich darauf spezialisiert haben, ihre Kunden nach dem Sex mit Gesprächen über Malerei, Kunst und Filme zu erfreuen, seiner an.
Der Treffpunkt der zeitlos vortrefflich gekleideten Callboys David (Jonah Hauer-King), Jesus (Alessandro Cimadamore), Marcello (Leonardo Salerni) und Victor (Raphael Desprez) – die allesamt grenzwertig theatralisch agieren – ist eine häufig von Matrosen besuchte Bar, die den Zuschauer mit dem Holzhammer auf Rainer Werner Fassbinders letzten Film „Querelle“ verweist. Zu den Kunden der männlichen Edelprostituierten zählen nur reiche, schwule Freier und Künstler. Schon bald wird Jim, der sich erst einmal Wissen über Künstler wie Velázquez, Gauguin, Wilde und Pasolini aneignen muss, von einem älteren Maler zu seiner Muse auserkoren.
Auch Derek Jarmanns Biopic „Caravaggio“ aus dem Jahre 1986 werden eindeutige Referenzen erwiesen, ist Jim doch ein großer Bewunderer dieses Malers, der einst Obdachlose und Prostituierte von der Straße holte und sie als Heilige in seinen Werken verewigte. Die malende Schwulenikone tritt sogar selbst auf, denn Jim halluziniert sich vor Caravaggios Bildern immer wieder in dessen Tableaux vivants hinein. Diese Nachstellungen der barocken Gemälde mit den Schauspielern haben durchaus ihren Reiz und hallen am längsten beim Zuschauer nach.
Prätentiös wirkt der Film, wenn er sich selbst zu ernst nimmt, denn besonders gehaltvoll sind die Dialoge über Kunst nun wirklich nicht. Am besten funktioniert der schräg-stylishe Film an den Stellen, an denen er sich selbst eben nicht zu ernst nimmt. Obendrein ist es sehr verwunderlich, dass ein Film mit einem ausnehmend attraktiven Hauptdarsteller, der als Callboy arbeitet, jeglicher knisternder Erotik entbehrt. Als der ehemalige Raconteur und geldgeile Auktionator Paul (Leemore Marrett Jr.) dann auch noch versucht, Jims Gabe, echte Gemälde von Fälschungen zu unterscheiden, für sein Geschäft auszunutzen, wird der Film letztlich auch ein wenig albern.
Womöglich wäre die Inszenierung auf einer Bühne oder zumindest in einem Kurzfilm besser aufgehoben gewesen, als in einem 90-minütigen Kinofilm. Was im Gedächtnis bleibt, sind tatsächlich ein paar hübsche, bunte Postkartenbilder, aber keine große Kunst.
Nordbuzz / Dez. 2018