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Mutterunglück
»Tully« ist eine lebenskluge Tragikomödie
Ist es nicht einfach wunderbar, ein Kind zu bekommen? Der Regisseur Jason Reitman (»Juno«, »Up In The Air«) und seine oscargekrönte Drehbuchautorin Diablo Cody – die aus lauter Langeweile über ihren Büroalltag früher mal nebenbei als Stripperin arbeitete und selbst zwei Kinder hat – haben diese Frage schon einmal erfrischend anders beantwortet als uns Werbung, katholische Kirche und Heimatministerium suggerieren wollen: Die ungewöhnliche Indie-Teenager-Schwangerschafts-Tragikomödie »Juno« avancierte 2007 zum großen Kinoerfolg, den niemand vorhersehen konnte.
Auch in dem neuesten Film des Duos geht es um eine Schwangere, eine bereits zweifache Mutter, die sich mit letzter Kraft durch ihren überfordernden Alltag schleppt. Ko-Produzentin Charlize Theron (»Monster«), die sich ihre Rollen stets mit Haut und Haar einverleibt und bereits in der Filmkomödie »Young Adult« (2011) mit Reitman und Cody zusammenarbeitete, spielt diese zu Sarkasmus neigende Marlo phänomenal uneitel und überzeugend.
Die von Codys großartigem Gespür für authentische Dialoge getragene Tragikomödie nimmt sich Zeit, den Zuschauer in das Leben von Marlo mitzunehmen. Die hochschwangere Vierzigjährige versucht, Haushalt und Familienbetrieb am Laufen zu halten, was alles andere als einfach ist: Ihr ältester Sohn Jonah (Asher Miles Fallica) hat autistische Züge und rastet gerne mal aus, weshalb ihn die Rektorin seiner Schule schnellstmöglich loswerden will. Und Marlos mittleres Kind bekommt klassischerweise nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient.
Ach ja, und dann ist da noch ihr nicht unsympathischer Ehemann alter Schule, Drew (Ron Livingston), der das Geld für die bald fünfköpfige Mittelklassefamilie ranrackert, aber ansonsten seine Ruhe, seine Playstation und seinen wohlverdienten Schlaf haben will.
Nur Marlos reicher Bruder sieht, dass seine Schwester am Ende ihrer Kräfte ist, und macht ihr ein Geschenk, das sie nach anfänglichem Zögern auch annimmt: Zur Geburt schenkt er ihr ein Kindermädchen namens Tully, welches das Baby nachts betreut, damit Marlo wenigstens wieder etwas Schlaf bekommt.
Die titelgebende Tully, die mit großer Leichtigkeit von Mackenzie Davis (»Blade Runner 2049«) gespielt wird, erweist sich als eine Art moderne Mary Poppins, eine unkonventionelle Hilfe, die nicht nur für das Baby da ist, sondern sich auch für Marlo als Mensch interessiert. Denn, man schaue und staune: Marlo hatte auch ein Vorleben, war nicht immer ein übergewichtiges, sich selbst aufopferndes Muttertier mit strähnigem Haar.
Zwischen der freigeistigen Studentin und Marlo, die endlich wieder Zeit findet, zu sich zu kommen, entwickelt sich eine märchenhafte Freundschaft, die Marlo ihre Lebenskrise beinahe überwinden lässt.
Doch die perfekte Manic-Pixie-Dream-Babysitterin entpuppt sich letztlich als viel mehr, was dem lebensklugen Film noch einmal einen überraschenden Dreh gibt. So entlässt »Tully« den Zuschauer nicht nur mit diesem besonderen Gefühl, das Reitmans und Codys dem Leben abgerungene Filme stets hervorrufen, sondern tatsächlich auch mit wichtigem Erkenntnisgewinn: Unterstützt Familien und insbesondere Mütter, mit den Herausforderungen des Alltags fertig zu werden – auch ohne vorher zu fragen.
„Tully“ in Neues Deutschland von Mai 2018