Foto: (c) Weltkino Filmverleih GmbH / Alexandra Bas
Nieder mit dem Machismo!
Das sperrige Drama „Caracas, eine Liebe“ von Lorenzo Vigas vermag vor allem dank brillanter Hauptdarsteller und seines Themas überzeugen.
Ein 50-jähriger emotionsarmer Zahntechniker bezahlt junge Männer dafür, dass sie vor seinen Augen ihren Hintern entblößen, damit er sich hinter ihrem Rücken befriedigen kann: Nicht allzu häufig bekommt man im Kino eine dermaßen unsympathische Hauptfigur zu sehen, der man dennoch mit Interesse durch ein dokumentarisch anmutendes Liebesdrama folgt. Der venezolanische Spielfilmdebütant Lorenzo Vigas gewann mit „Caracas, eine Liebe“ in diesem Jahr in Venedig den Goldenen Löwen, was er vor allem seinem chilenischen Hauptdarsteller und Star Alfredo Castro und dessen jungem Konterpart Luis Silva zu verdanken hat. Das nuancierte Spiel der Protagonisten trägt letztlich die zum Teil schwer erträgliche, gelegentlich auch schlichtweg langweilige und immer wieder unglaubwürdige Story aus der Feder von Guillermo Arriaga („Babel“, „21 Gramm“).
Die Kamera von Sergio Armstrong, der ein wenig zu häufig Unschärfe als Stilmittel einsetzt, folgt dem wohlhabenden Armando (Castro). Wie ein Tier durch die Straßen von Caracas getrieben, hält der 50-Jährige nach armen jungen Männern Ausschau. Doch selbst wenn er sich in seiner Wohnung später an ihren schönen, halbnackten Körpern ergötzt und befriedigt, zeigt sein Gesicht kaum eine menschliche Regung.
Bis der offenkundig traumatisierte Mann eines Tages auf den impulsiven Elder (Silva) trifft: Der Autoschrauber und Kleinkriminelle ist von Anfang an skeptisch gegenüber Armando, geht wegen des Geldes aber dennoch mit ihm mit. Vigas vermag die Unterschiede zwischen arm und reich in seinem Heimatland immer wieder subtil herauszuarbeiten. In Armandos recht luxuriöser Wohnung angekommen, weigert sich der Junge von der Straße dennoch, Armandos perverses Spielchen mitzumachen. Stattdessen schlägt der testosterongesteuerte junge Mann „die Schwuchtel“ nieder und raubt sie aus. Fortan kann man kaum mehr erahnen, wie die Story sich weiterentwickeln wird, was einen Großteil ihres Reizes ausmacht: Armando ist trotz allem fasziniert von dem jungen Mann und stellt ihm nach. Mit der Aussicht auf noch mehr Geld lässt Elder sich wieder auf ihn ein – obwohl er aufgrund seines ausgeprägter Machismo eigentlich alle Homosexuellen zutiefst verachtet.
Das Einzige, was die beiden Außenseiter eint, ist ein äußerst schwieriges Verhältnis zu ihrem Vater: Armando hegt einen schlimmen Groll gegen seinen Erzeuger, der kürzlich erst wieder in der venezolanischen Hauptstadt aufgetaucht ist. Elders Vater sitzt dagegen im Knast – angeblich hat er aus einer Laune heraus einen Kumpel von ihm getötet. Viel mehr erfährt man nicht von der Familiengeschichte der beiden, Vigas konzentriert sich fast völlig auf ihre gegenwärtige Situation und folgt mal dem einen, mal dem anderen. Als Armando Elder eine Weile nicht sieht, beginnt er ihn überall zu suchen und findet ihn schließlich bewusstlos in einer heruntergekommenen Wohnung. Die Brüder seiner Freundin haben ihn zusammengeschlagen. Er nimmt ihn mit zu sich nach Hause und pflegt ihn gesund. Aufgrund dieses Akts väterlicher Fürsorge entwickelt Elder eine heftige Zuneigung, die der krankhaft distanzierte Armando jedoch kaum aushält.
Auch der Zuschauer hat Schwierigkeiten, sich in Elders plötzliche Gefühlswallungen hineinzuversetzen, als dieser auf einer Familienfeier auf einmal den unsympathischen Armando zu küssen versucht. Es liegt ausschließlich wieder an dem glaubwürdigen Spiel der beiden, dass man auch diese unglaubwürdige Wendung der Geschichte schluckt. Die Auflösung ist dagegen dann noch einmal ein arg konstruierter, schwerer Brocken. Dennoch: Die unausgegorene Liebesgeschichte zweier Männer, die im von Machismus geprägten Lateinamerika ihren tragischen Verlauf nimmt, berührt. Zutiefst bestürzende Vorkommnisse wie das Massaker von Orlando zeigen, dass man gar nicht genug Goldene Löwen als Zeichen gegen Schwulenfeindlichkeit vergeben kann.
Stimme / Juni 2016